Der 13. Geburtstag
Geburtstage sind für jedes Kind aufregend. Aber Ernst Gotthilf-Miskolcz aus Wien kann sich sein Leben lang aus einem weiteren Grund genau an seinen dreizehnten Geburtstag erinnern: Es ist der Tag, an dem deutsche Truppen in Österreich einmarschieren, der 12. März 1938.
„Ich werde das nie vergessen. Vor dem Einmarsch war ich stets wie ein kleiner Gentleman behandelt worden, aber plötzlich war ich ein „Judenschwein“. Meine Schulfreunde waren in der Woche zuvor sehr gerne zu meiner Geburtstagsfeier gekommen. Als ich am Montag zurück zur Schule ging, riefen sie mir „Sieg Heil“ und „Heil Hitler“ zu“, erinnert er sich Jahrzehnte später.
Die drei Lebensalter
Ernst wohnt mit seinen Eltern Stephan und Elisabeth und seiner Schwester Marietta in der Wiener Altstadt. In ihrem Salon hängt ein imposantes Kunstwerk. Ein Triptychon, das in drei großformatigen Gemälden die drei Lebensalter einer Frau darstellt. Als schüchternes junges Mädchen bei der Weizenernte, als Mutter, die einen schweren Korb voll Kartoffeln auf dem Rücken trägt, ihren kleinen Sohn an ihrer Seite, und als gebeugte, erschöpfte Alte. Der Titel des Gemäldes bezieht sich auf den 90. Psalm in der Bibel:
„Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sinds achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“
Seit seiner Fertigstellung 1898 hat das Kunstwerk für Furore gesorgt. Schon im Entstehungsjahr war es in der einflussreichen Zeitschrift „Jugend“ auf einer Doppelseite abgebildet, es ist in der Ausstellung der Münchner Sezession zu sehen und in der Deutschen Kunstausstellung in Dresden.
Danach erwerben die Eltern von Elisabeth, Dr. Fritz und Emmy Redlich, das Triptychon. Es erhält es einen prominenten Platz im Esszimmer. Elisabeth, 1901 geboren, wächst mit dem Gemälde auf, und als sie 1924 Stephan Gotthilf-Miskolcz heiratet, erhält sie es als Hochzeitsgeschenk. Seitdem hängt es in der Wohnung in der Falkestraße im Ersten Wiener Bezirk, und nun sind es auch Elisabeths Kinder, der 1925 geborene Ernst und seine fünf Jahre jüngere Schwester Marietta, die es täglich vor Augen haben, bis sie Wien verlassen müssen.
Das Triptychon dominiert den Raum, erinnert sich Ernsts Schwester Marietta. Ihr Platz am Esstisch ist genau gegenüber den monumentalen Figuren. „Es war eine Ikone unserer Familie“.
Hastige Flucht
Der Anschluss Österreichs bedeutet für die Familie das Ende ihrer sicheren und wohlhabenden Existenz. Ernst schildert die schlagartigen Veränderungen: „Ich durfte nicht mehr in den Park gehen, ich durfte nicht auf der Bank sitzen, ich durfte keine Eiscreme mehr kaufen… alles war mir verboten.“
Zwar haben sich Elisabeth und Stephan katholisch taufen lassen, doch in der Rassenideologie der Nationalsozialisten gelten sie als jüdisch. Vater Stephan flieht überstürzt, nachdem er den Hinweis bekommen hat, dass er nach Dachau deportiert werden soll. Ernst erinnert sich: „Er packte sofort einen Koffer und ging zum Bahnhof, wo er den erstbesten Zug nahm, um in ein visumfreies Land zu gelangen. Das war zufällig Jugoslawien.“ Elisabeth flieht mit den Kindern in die Schweiz. Erst Monate später ist die Familie in London wieder vereint.
In der Zwischenzeit wird die Wohnung in Wien geplündert. Auf ungeklärten Wegen gelangt das Triptychon in den Privatbesitz einer Gräfin Weikersberg in Bayern. Die bietet es den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zum Kauf an, vermittelt durch den Sohn des Malers, Johannes von Kalckreuth. Man einigt sich auf eine Summe von 15.000 Reichsmark. So gelangt das Triptychon 1942 nach München.
Lange und mühsame Suche nach dem Kunstwerk
In England ändern Stephan und Elisabeth ihren Familiennamen: Sie nennen sich nun Glanville, und aus Ernst wird Ernest.
Nach dem Krieg suchen sie nach ihren Verwandten. Nicht alle haben den Terror der Nationalsozialisten überlebt. Elisabeths Schwester Alma Eisenberger und ihr fünfzehnjähriger Sohn Max wurden ins Ghetto Łódź deportiert und dort ermordet. Der Rest der Familie konnte fliehen, lebt nun aber in der ganzen Welt verstreut.
Und sie suchen nach ihrem verlorenen Besitz, vor allem nach dem verschwundenen Triptychon. Elisabeth Glanville schreibt an das Bundesdenkmalamt und an diverse Galerien in Wien, selbst an die Interpol. Doch niemand weiß im Jahre 1948 etwas über den Verbleib.
Elisabeth Glanville gibt nicht auf. 1971 wendet sie sich an das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland. Und dieses weist sie auf den aktuellen Standort hin – die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München. Doch ihr Antrag auf eine Restitution oder eine Entschädigung wird von der Wiedergutmachungskammer in Berlin als unzulässig abgelehnt, da die Fristen abgelaufen seien.
Mehr als ein Vierteljahrhundert später kommt mit den Washingtoner Konferenz ein Wendepunkt. Elisabeth Glanville ist 1983 verstorben. Doch ihre Kinder, Ernest und Marietta, haben das Triptychon und das vergebliche Bemühen ihrer Mutter, das geliebte Kunstwerk zurückzuerhalten, nicht vergessen. Die Forderungen der Washingtoner Prinzipien und erste erfolgte Rückgaben an Geschädigte und deren Erb:innen ermutigen Ernest und Marietta, einen neuen Versuch zu unternehmen. Mit Hilfe der Commission for Looted Art beantragen die Geschwister im Dezember 1999 die Rückgabe des Bildes. Und diesmal wird dem Antrag nachgekommen.
Restitution in London
Am 12. März 2000 wird Ernest Glanville 75 Jahre alt. Es ist ein besonderer Geburtstag. Denn er weiß, dass am nächsten Tag er und seine Schwester Marietta endlich das Triptychon zurück erhalten. Zufällig befindet sich das Kunstwerk gerade in London. In der Royal Academy of Arts wird es in der Ausstellung „1900: Art at the Crossroads“ gezeigt. Die Geschwister, die beide im Norden Londons wohnen, haben es also nicht weit zu der Zeremonie, bei der auch Dr. Reinhold Baumstark, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, und David Gordon, Generalsekretär der Royal Academy.
Ernest Glanville lässt bei der Zeremonie am 13. März 2000 noch einmal die schmerzlichen Erinnerungen an die Verfolgung der Familie durch die Nationalsozialisten aufleben. Doch er betont auch, wie dankbar er ist, dass der Kampf um das geraubte Eigentum endlich ein Ende gefunden hat – noch dazu an seinem 75. Geburtstag.
„Das Leben währet 70 Jahre“ war das erste Kunstwerk, das in Großbritannien an seine rechtmäßigen Eigentümer:innen zurückgegeben wurde. Das Ereignis schlug hohe Wellen in der Presse – der britischen vor allem, aber auch international fand der Vorgang Beachtung.
Marietta starb im April 2012 und Ernest im Juni 2018. Ihre Kinder halten die Erinnerung an diesen besonderen Tag im März 2000 immer noch in Ehren – und an das Wunder der gelungenen Flucht ihrer Eltern aus Wien.