Familie Schmidl

Familienarchiv / Fotograf unbekannt
Zunächst beginnt sie jedoch ein Mathematikstudium. Und in die Wiege gelegt wird Marianne Schmidl die Leidenschaft für Volkskunde auch nicht.
Ihr Vater, Dr. Joseph Schmidl, arbeitet als Rechtsanwalt. Er ist Jude, aber vor der Hochzeit mit Mariannes Mutter, Marie Friedmann, lässt er sich 1889 evangelisch taufen. Marianne kommt 1890 zur Welt und wird evangelisch getauft, ebenso wie ihre jüngere Schwester Franziska.

bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Volker-H. Schneider

bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Volker-H. Schneider
Die Künstlerbrüder Olivier
Marie Schmidl, geb. Friedmann, ist Nachfahrin einer berühmten Künstlerfamilie. Ihr Großvater und somit Mariannes Urgroßvater ist Friedrich von Olivier (1791–1859). Die Brüder Friedrich und Ferdinand Olivier gehörten dem Künstlerkreis der Nazarener an, und auch ihr Bruder Heinrich war als Maler tätig.
Marie Schmidl erbt von ihren Vorfahren viele Werke, die den Grundstock einer Kunstsammlung bilden.
„Frau Marie Schmidl, eine Enkelin Friedrich Oliviers, hat viele Blätter aufbewahrt, die vom Großvater, von dessen begabterem Bruder Ferdinand und Schwager Julius von Schnorr in der Familie geblieben waren.“ Hans Tietze, 1910

Katja Geisenhainer
Die Kunstsammlung
Die Sammlung Schmidl schafft es 1908 in die „Österreichische Kunsttopographie“, eine Art Kunst-Reiseführer, der in zwei dicken Bänden die Kunstdenkmäler der Stadt Wien vorstellt. Als Adresse ist die Colloredogasse 31 in Wien angegeben. Hier wächst Marianne Schmidl auf.

Familienarchiv / Fotograf unbekannt
Zwei Nichten
Nach dem Tod ihres Ehemannes zieht Marie Schmidl in ein evangelisches Wohnheim im oberösterreichischen Wels. Marianne Schmidl nimmt die Kunstwerke aus Familienbesitz in ihre Obhut. Ihre Schwester Franziska stirbt 1925 und hinterlässt zwei Töchter. Marianne bleibt ledig und kinderlos.
Als Frau in der Wissenschaft

bpk / Neue Photographische Gesellschaft
Am Museum
Nach ihrem Studium fängt Marianne Schmidl als wissenschaftliche Hilfskraft in der Afrika-Abteilung des Berliner Museums für Völkerkunde an. Sie bleibt aber nur für kurze Zeit, weil am 24. Juni 1916 in Wien ihr Vater stirbt und sie sich um seinen Nachlass kümmern muss. Ab 1917 arbeitet sie am Linden-Museum in Stuttgart. Dort wird sie im Mai 1920 wegen Personalabbaus entlassen.

Österreichische Nationalbibliothek
In der Bibliothek
Zurück in Wien, findet sie eine Praktikumsstelle an der Österreichischen Nationalbibliothek. Der Direktor setzt sich für ihre Einstellung ein. 1924 wird sie verbeamtet. Im Januar 1938, kurz bevor Österreich dem Deutschen Reich eingegliedert wird, befördert man sie zur Staatsbibliothekarin erster Klasse.

Fotostudio Daniel Hasse, Reinbek
Ein Forschungsprojekt
Neben ihrer Arbeit an der Nationalbibliothek setzt Marianne Schmidl ihre Studien über afrikanische Flechtarbeiten fort, die sie in Berlin begonnen hat. Das Sächsische Forschungsinstitut für Völkerkunde finanziert das Forschungsprojekt ab 1926.
Mitte 1927 übernimmt der Anthropologe und Ethnologe Otto Reche die Leitung des Leipziger Instituts und damit die Schirmherrschaft über Schmidls Projekt. Reche bekennt sich 1933 offen zu Adolf Hitler.

Bundesarchiv, Bild 183-2005-0308-500
Otto Reche (1879–1966) stellte seine Forschung in den Dienst der ‚Rassenhygiene‘. Er entwickelte den ‚biologischen Abstammungsnachweis‘, der dem NS-Staat später als Hilfsmittel zur ‚Rassenpflege‘ diente.
Während des Zweiten Weltkriegs untermauerte er mit seinen Theorien zur Rassenkunde die Vertreibung und Ermordung der einheimischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten Osteuropas und der Sowjetunion.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er mehrere Monate inhaftiert, konnte dann aber seine Gutachtertätigkeit fortsetzen. 1965 wurde er mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.
Hintergrund

Familienarchiv / Katja Geisenhainer 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Ein halbes Manuskript
1934 kann Marianne Schmidl nur die Hälfte ihres Manuskripts über „Afrikanische Spiralwulstkörbe“ zur Beurteilung einreichen. Sie ist durch ihre zwei Parallel-Jobs überlastet und bei schlechter Gesundheit.
Otto Reche stellt fest, dass es eine „grosse wertvolle Arbeit“ sein könnte, wenn sie vollständig wäre. Aber Schmidl, erinnert Reche einen Kollegen, sei noch dazu Jüdin. Er sei froh, nun jemanden deswegen ablehnen zu dürfen.

Österreichische Nationalbibliothek / Dietrich & Co
Nach dem Anschluss Österreichs

Bundesarchiv, Bild 137-049269 / Friedrich Franz Bauer
Nach dem Anschluss Österreichs gerät Marianne Schmidl immer mehr unter Druck.
Sie wird aufgefordert, einen ‚Ariernachweis‘ vorzulegen, aber sie hat Schwierigkeiten, die geforderten Dokumente aufzutreiben.
Den NS-Behörden teilt sie mit, dass sie sich wegen ihres früher jüdischen Vaters für einen ‚Mischling 1. Grades‘ halte.

Österreichische Nationalbibliothek, Archiv NB 1209/1938
In den Ruhestand versetzt
Im Juni 1938 wird die Nationalbibliothek aufgefordert, ein Verzeichnis ihrer jüdischen Mitarbeiter:innen zu erstellen. Schmidls Name erscheint auf der Liste, die ihr Arbeitgeber an das Ministerium schickt.
Wenige Tage später legt der Leiter der Nationalbibliothek Marianne Schmidl nahe, gemäß der ‚Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums‘ die Versetzung in den Ruhestand zu beantragen. Zum 1. Oktober 1938 wird sie mit 48 Jahren in den „dauernden Ruhestand“ versetzt.

Gemeinfrei 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Zur ‚Volljüdin‘ erklärt
Am 16. Mai 1939 wird Marianne Schmidl mitgeteilt, dass ihr Antrag auf rechtliche Gleichstellung mit jüdischen Mischlingen abgelehnt sei. Sie gilt nun endgültig als ‚Volljüdin‘.
Nach langer Suche finden die NS-Behörden schließlich 1941 den Nachweis, dass auch Marianne Schmidls Großvater mütterlicherseits, Eduard Adolf Friedmann, Jude war, bevor er sich 1855 taufen ließ.

Familienarchiv
Eine ausweglose Situation
Schon vor dem verhängnisvollen Schreiben muss Marianne Schmidl eine Vermögenserklärung abgeben und die Judenvermögensabgabe bezahlen.
Sie ist auf die finanzielle Unterstützung ihres Schwagers Karl Wolf angewiesen, obwohl auch er 1938 aus politischen Gründen seine Physikprofessur an der Universität Wien verliert.
Der Kunsthändler erinnert sich an die Begegnung mit Marianne Schmidl (aus Christian M. Nebehay: Das Glück auf dieser Welt. Erinnerungen, Wien 1995, S. 72-73).
Der Kunsthändler Nebehay
In ihrer Not beschließt Marianne Schmidl, ihre Kunstwerke aus Familienbesitz zu verkaufen.
Sie geht mit einer zerfledderten Zeichenmappe unter dem Arm zum Kunsthändler Christian M. Nebehay. Er ist begeistert von den Zeichnungen und vermittelt ihr den Kontakt zum Auktionshaus C. G. Boerner in Leipzig.

UB Heidelberg, https://doi.org/10.11588/diglit.5177#0001

UB Heidelberg, https://doi.org/10.11588/diglit.5175#0004
Zwei Auktionen in Leipzig
C. G. Boerner übernimmt 19 Zeichnungen und bietet sie bei einer Auktion im April 1939 an. Im Mai 1941 versteigert C. G. Boerner weitere Kunstwerke aus Familienbesitz Schmidl.
Marianne Schmidl liefert aber die Zeichnungen nicht selbst ein. Ihr Schwager Karl Wolf und ihre Freundin Etta Becker-Donner, eine Kollegin am Museum für Völkerkunde, treten für sie als Einliefernde auf. So werden die Zeichnungen nicht als jüdischer Besitz gekennzeichnet. Womöglich ist damit die Hoffnung verbunden, einen angemessenen Preis zu erzielen.
Ermordet im Holocaust

Österreichische Nationalbibliothek / Albert Hilscher
Kein Geld für die Emigration
Freunde raten Marianne Schmidl, ins Ausland auszuwandern, wie so viele andere Jüdinnen und Juden in dieser furchtbaren Zeit. Schmidl versucht, in die USA zu emigrieren, aber dafür fehlt ihr das Geld. Sie muss hoffen, irgendwie in Österreich zu überleben.

bpk / Deutsches Historisches Museum / Max Kirnberger
Deportation
Am 9. April 1942 wird Marianne Schmidl in das Ghetto Izbica in Polen deportiert. Die Umstände und das genaue Datum ihres Todes sind unbekannt, aber das Lager Iszbica ist eine Durchgangsstation in die Vernichtungslager Sobibór und Bełżec. Niemand von den ungefähr 4.000 nach Izbica deportierten österreichischen Jüdinnen und Juden überlebt.
Restitution

bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Volker-H. Schneider 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Für die Nationalgalerie ersteigert
Auf den beiden Auktionen in Leipzig ersteigern bedeutende Museen Kunstwerke von Marianne Schmidl, darunter auch die Nationalgalerie in Berlin. Sie zahlt 4.600 und 3.700 Reichsmark für die Werke und fügt sie in die „Sammlung der Zeichnungen“ ein.
Rückgabe des Kupferstichkabinetts
1992 wird die „Sammlung der Zeichnungen“ in das Berliner Kupferstichkabinett übernommen. Im Rahmen eines Projekts werden ab 2013 die Provenienzen dieses Bestands erforscht.
Die Zeichnungen Marianne Schmidls werden als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut identifiziert und 2014 an die Erben zurückgegeben.

bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern

Hamburger Kunsthalle / bpk / Christoph Irrgang 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Auch andere Museen restituieren Kunstwerke aus der Sammlung Schmidl: die Albertina in Wien (2013), die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (2015), die National Gallery of Art in Washington (2016), die Hamburger Kunsthalle (2018) und das Münchner Lenbachhaus (2019).
rbb-Beitrag über Marianne Schmidl
Marianne Schmidls Leben wurde in einer grundlegenden Arbeit von Katja Geisenhainer erforscht.
Weitere Links
Katja Geisenhainer: Schmidl, Marianne (deutsche-biographie.de) →
Pressemitteilung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, 8. Oktober 2014 →
Pressemitteilung der National Gallery of Art Washington, 19. August 2016 →
Pressemitteilung des Lenbachhauses, 29. Oktober 2019 →
Lenbachhaus: Wer war Marianne Schmidl →
Staatliche Kunstsammlungen Dresden: „Welke Blätter“ für den „Sonderauftrag Linz“ →