
Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jörg P. Anders. Public Domain Mark 1.0 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Die Ecke eines Dorfplatzes, gemalt mit kühnen, breiten Pinselstrichen in gedämpften Braun- und Beigetönen. Die wenigen Menschen heben sich kaum von den pittoresken Häuserzeilen ab.
Als Camille Pissarro das Bild 1867 in einem Dorf nördlich von Paris malt, kann er kaum von seiner Kunst leben. 1930, nach seinem Tod, wird er zu seinem 100. Geburtstag mit einer Ausstellung im Musée de l’Orangerie in Paris geehrt – er ist zu den bedeutendsten französischen Malern seiner Zeit aufgestiegen.
Auch das Gemälde mit dem Dorfplatz hängt in dieser Ausstellung. Es ist eine Leihgabe von Armand Dorville, der eine große Kunstsammlung französischer Impressionisten zusammengetragen hat.
Unter Zwangsverwaltung. Aus der „Provenienzspur“ in der App der Alten Nationalgalerie, Berlin. © Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
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Die Geschichte des Gemäldes
Pariser Bürgertum

Ordre des avocats de Paris, Public domain, via Wikimedia Commons
Dorville ist damals eine bekannte Persönlichkeit in Paris. Über seine Erfolge als Rechtsanwalt wird oft in der Zeitung berichtet, weil er immer wieder in Aufsehen erregenden Fällen vor Gericht auftritt. Er gilt als besonders wortgewandt und schlagfertig.

bpk / adoc-photos
Die Familie Dorville
Armand Isaac Dorville, wie er mit vollem Namen heißt, wird am 18. Juli 1887 in Paris geboren. Seine Familie ist angesehen und einflussreich.
Der Vater Léon Albert Dorville ist Bankier und leitet eine jüdische Wohlfahrtsorganisation, die dessen Vater, Armands Großvater, gegründet hat. Armands Mutter, Léonie Monteaux, stammt aus einer Bankiersfamilie aus Avignon. Armand Dorville hat zwei Schwestern und einen Bruder, Jeanne, Valentine und Charles.
Krieg und Frieden

Bibliothèque numérique de la Sorbonne, https://nubis.bis-sorbonne.fr/ark:/15733/mjs
Studium und Karriere
Nach dem Abitur schreibt sich Armand Dorville an der juristischen Fakultät in Paris ein und spezialisiert sich auf Handelsrecht. 1901 schreibt er seine Doktorarbeit, für die er einen Preis erhält. Danach ist Dorville Sekretär der Anwaltskonferenz und macht Karriere in einer Privatkanzlei.

Bundesarchiv, Bild 183-S27820
Beim Militär
1914 muss Dorville zum Militärdienst. Er wird an der Front bei Tournai verwundet und gerät in Gefangenschaft. Doch er kann flüchten und kehrt zu seinem Regiment zurück. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wird er mehrmals befördert, 1918 ist er Offizier.

Family collection
Gute Jahre
Nach dem Krieg nimmt Dorville sein Leben in Paris wieder auf. Er ist erfolgreich, sozial engagiert, interessiert an Kunst und Kultur. Er unternimmt viele Reisen, zum Beispiel 1925 nach Damaskus und 1926 in die Sowjetunion. Darüber schreibt er im Satiremagazin „Le Figaro“ und in der Tageszeitung „Le Temps“.
Kunst und Kultur

CC BY-SA 4.0, über Wikipedia

Kunstmuseum Bern und Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH / Mick Vincenz 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern

Foto: Carsten Gliese, Köln
Die Impressionistensammlung
Armand Dorville wohnt in einem Stadtpalais in der Rue Édouard-Detaille in Paris. Dort bewahrt er seine wertvolle Kunstsammlung auf. Sie umfasst rund 450 Gemälde von berühmten Künstlern wie Renoir, Manet, Signac, Daumier, Degas, Rodin und vielen anderen.
Die Sammlung ist in Museumskreisen bekannt, Dorville engagiert sich als Mäzen und Leihgeber. Besonders eng ist er mit dem Musée des Arts Décoratifs in Paris verbunden, das nach seinem Tod eine großzügige Schenkung erhält.

Miguel Hermoso Cuesta. CC BY-SA 3.0
Aeben Malerei und bildender Kunst hat Dorville auch Interesse an Büchern und der Rechtsgeschichte. Er ist Mitglied der 1923 gegründeten „Association des Bibliophiles du Palais“, die sich besonders kostbaren und seltenen Büchern von Juristen und Politikern widmet. 1928 tritt er der „Commission des recherches historiques du Barreau de Paris“ bei, einer Vereinigung für historische Forschungen der Pariser Anwaltskammer.
Geschichtsträchtiger Landsitz
Dorville kauft ein Schlösschen in Cubjac, einer kleinen Ortschaft in Südfrankeich. Die historische Anlage mit vier Rundtürmen geht bis ins 13. Jahrhundert zurück.
Flucht nach Südfrankreich

Bundesarchiv, Bild 101I-126-0350-26A / Heinz Fremke
Einmarsch der Deutschen
1939 überfällt Deutschland Polen, der Zweite Weltkrieg bricht aus. Im Mai 1940 startet die sogenannte Westoffensive des deutschen Heeres mit Angriffen auf die Niederlande, Belgien und Frankreich. Innerhalb von wenigen Wochen sind die angegriffenen Länder besiegt. Im Juni 1940 marschieren deutsche Truppen in Paris ein.
Dorville flüchtet vor den Besatzern auf seinen Landsitz nach Südfrankreich.

Eric Gaba / Rama. CC BY-SA 4.0 über Wikimedia commons 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Teilung Frankreichs
Frankreich ist nun zweigeteilt. Der Norden mit der Hauptstadt Paris ist deutsch besetzt. Im Süden wird die Stadt Vichy zum Sitz einer neuen französischen Regierung. Anfangs finden viele Franzosen sie gut, aber sie wird immer rechtsradikaler und autoritärer. Sie kollaboriert schließlich mit dem Hitler-Regime und führt Verfolgungsmaßnahmen gegen Ausländer und Juden ein.

Family collection
Hrmand Dorville ist wieder in Gefahr, aber bevor das Vichy-Regime ihn attackieren kann, stirbt er am 28. Juli 1941 in seinem Schloss in Cubjac.
Da er unverheiratet ist und keine Kinder hat, fällt sein Erbe gemäß Testament an seine drei Geschwister und seine vier Nichten.
Unter Zwangsverwaltung

Bundesarchiv, Bild 183-2008-0626-500
Beschlagnahme
1942 beschließen die Erben, Dorvilles Kunstwerke in Nizza versteigern zu lassen. Sie wollen der drohenden Beschlagnahme zuvorkommen. Dieser Plan geht nicht auf: Die Vichy-Regierung unterstellt Dorvilles Schloss und seine Sammlung in letzter Sekunde dem „Generalkommissariat für Judenfragen“ und setzt einen Zwangsverwalter ein.

Bibliothèque de l'Institut national d'histoire de l'art, collections Jacques Doucet, GV/724 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Auktion in Nizza
Dieser lässt die Kunstsammlung, die Bibliothek und die Möbel aus dem Schloss wie geplant im Juni 1942 in der „Hall du Savoy“ in Nizza versteigern. Der Erlös aus der Auktion geht aber nicht an die Erben, sondern wird auf ein Bankkonto eingezahlt, auf das die Familie keinen Zugriff hat. Erst nach Kriegsende wird das Guthaben an die Familienmitglieder ausgezahlt, die den Nationalsozialismus überleben.
Verfolgung der Familie

Bundesarchiv, Bild 101I-027-1477-07 / Wolfgang Vennemann
1942 beginnt die französische Polizei mit der Deportation der in Südfrankreich lebenden Jüdinnen und Juden.
Die Angehörigen Dorvilles leben in großer Angst. Valentine Lion, geb. Dorville, Armands Schwester, trägt ihre Wertgegenstände immer bei sich.
„Schon in Grasse hatte Frau Lion, die von der Furcht vor ihrer eigenen Deportation und der ihrer Angehörigen besessen war, die Gewohnheit angenommen, ihre Schmuckstücke und Gegenstände von grossem Wert bei sich und in einem kleinen Koffer zu haben, von dem sie sich nicht mehr trennte.“
Eidesstaatliche Erklärung von Juliette Risso, 12. Dezember 1963. Landesarchiv Berlin, B. Rep 025-09-25, Nr. 312/59, Bl. 65.



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Ermordet in Auschwitz
Valentine wechselt mit ihrer Familie nach 1940 mehrmals den Aufenthaltsort, um sich in Sicherheit zu bringen: von Paris nach Cubjac, Lyon, Grasse und Megève. Doch schließlich werden sie verhaftet und nach Auschwitz verschleppt.
Valentine, zwei ihrer Töchter und ihre beiden Enkelinnen werden im Konzentrationslager ermordet. Nur die älteste Tochter, Marie-Thérèse, eine Nichte Armand Dorvilles, überlebt.
Der geraubte Koffer
Marie-Thérèse stellt nach dem Krieg einen Wiedergutmachungsantrag für die Bekleidung und den wertvollen Schmuck, der ihrer Mutter in Auschwitz als allerletztes Hab und Gut abgenommen worden ist. Der Schmuck war in ihrem kleinen Koffer, den sie nie aus den Augen gelassen hat. Marie-Thérèse fügt dem Antrag eine Zeichnung von einem der verlorenen Schmuckstücke bei.
Restitution und Ankauf


Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Andres Kilger 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern
Das Gemälde mit dem Dorfplatz, das Armand Dorville 1930 für die Pissarro-Ausstellung in Paris verliehen hat, wird 1942 in Nizza versteigert und 1961 von der Berliner Nationalgalerie aus dem Kunsthandel erworben. Die Herkunft des Bildes ist damals noch kein Thema. Dabei klebt auf der Rückseite ein Etikett mit Namen und Adresse des einstigen Besitzers: „Dorville, 4 Rue Éduard Detaille“.


SPK / Janine Schmitz/photothek.de
Erst mehrere Jahrzehnte später erhält die Nationalgalerie den Hinweis, dass Armand Dorville aus einer jüdischen Familie war, die von den Nationalsozialisten und ihren französischen Kollaborateuren verfolgt wurde.
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz restituiert das Gemälde „Une Place à la Roche-Guyon“ 2021 an die Erben Dorvilles und kauft es anschließend rechtmäßig. Heute hängt das Bild in der Alten Nationalgalerie.