Eine kinderreiche Familie aus Fellheim im Allgäu
Fellheim im Allgäu. Ein kleiner Ort an der Handelsstraße zwischen Ulm und Memmingen. Hier kommt 1854 Jakob Rosenthal zur Welt, das jüngste von neun Kindern einer jüdischen Familie. Seine Mutter, Dorlene, ist die Tochter des Fellheimer Metzgers Samuel Bacharach.
Sein Vater, Joseph Rosenthal, handelt mit Antiquitäten, alten Büchern und Drucken. Er ist weltgewandt, aufgeschlossen und durchsetzungsfähig – Charaktereigenschaften, die ihm im Handel, aber auch im Ehrenamt in der jüdischen Gemeinde zugute kommen. Schon seit 1670 gibt es in Fellheim eine jüdische Gemeinde, die jedoch im 19. Jahrhundert aufgrund diskriminierender Gesetze zunehmend verarmt. Das sieht man auch der Synagoge an, die zunehmend baufällig wird. Joseph Rosenthal setzt sich für den Erhalt ein. Ihm gelingt es, die ungeheure Summe von 2000 Gulden für die Renovierung zu sammeln – hauptsächlich durch Spenden von Verwandten und jüdischen Gemeinden in den USA.
Was Joseph sehr am Herzen liegt, ist gute Bildung für seine Kinder. So schickt er seinen Sohn Ludwig dreimal wöchentlich ins Kloster Buxheim, damit er dort Englisch lernt. Der Junge legt die zehn Kilometer lange Strecke zu Fuß zurück, bei jeder Jahreszeit.
1858 trifft ein Schicksalsschlag die Familie: Die Mutter Dorlene stirbt unerwartet im Alter von 44 Jahren. Sie findet ihre letzte Ruhestätte auf dem jüdischen Friedhof in Fellheim. Jakob ist erst vier Jahre alt, als er Halbwaise wird.
Nun hält Joseph Rosenthal nichts mehr in Fellheim. Ihn, der beruflich viel herumkommt und vielseitig interessiert ist, zieht es nach München. Die Residenzstadt entwickelt sich seit der Jahrhundertmitte zu einem Kunst- und Wissenschaftsstandort. Joseph Rosenthal kann hier für seinen Antiquitäten-, Kunst- und Buchhandel mit einem großen Kundenkreis rechnen.
Auch sein Sohn Ludwig, der inzwischen ausgebildeter Buchhändler und Antiquar ist, will sich in München niederlassen.
Nachdem 1861 die letzten Zuzugsbeschränkungen für Jüdinnen und Juden fallen, ist dieses Ziel endlich in greifbare Nähe gerückt. Ludwig macht seinen Traum wahr: Er begründet im Herzen von München, am Promenadeplatz, das „Rosenthal Antiquariat“.
Während Ludwig noch von Fellheim nach Buxheim wandern musste, um Englischunterricht zu erhalten, genießt Jakob das Privileg, von einem Privatlehrer in Französisch, Englisch und „Benimm“ unterrichtet zu werden. Nach einer Ausbildung im Antiquariat seines Bruders erhält er den letzten Schliff in Antiquariaten in Heidelberg und Karlsruhe. Dann kehrt er nach München zurück und wird Teilhaber im „Rosenthal Antiquariat“.
Aus Jakob wird Jacques
1878 schickt Ludwig seinen Bruder für längere Zeit nach Paris, das neben London das wichtigste europäische Handelszentrum für wertvolle und seltene Bücher ist. Aber Paris ist nicht nur als Markt interessant, hier hat sich auch an den Universitäten und den Bibliotheken eine Wissenschaft um Handschriften und frühe Druckwerke entwickelt. Und natürlich ist es ein besonderes Erlebnis, während der Belle Époque in Paris zu sein. Jakob bildet sich weiter, knüpft Kontakte – und verliebt sich in die Stadt an der Seine, so sehr, dass er sich fortan nicht mehr Jakob, sondern Jacques nennt.
Dank seiner Wissbegier und seinem Spürsinn gelingt Jacques in Paris so mancher spektakuläre Ankauf. Das Antiquariat der Brüder Rosenthal hat sich schnell einen hervorragenden Ruf erworben. Wissenschaftsinstitutionen und Bibliotheken, Privatleute und Regierungskreise kaufen bei den Rosenthals ein. Zu ihren prominentesten Kunden gehören der bayerische König Ludwig II. und Kaiser Wilhelm I.
1882 heiratet Jacques die 25jährige Emma Guggenheimer. Die Braut kommt aus einer angesehenen Münchner Familie. Tochter Theodora wird 1884, Sohn Erwin 1889 geboren.
München - Zentrum des Kunst- und Antiquitätenhandels
ie Firma der Brüder Rosenthal wächst und wächst. Unglaubliche 800.000 Bände umfasst ihr Bestand. Da entschließen sich die Rosenthals zur Teilung. Jacques eröffnet 1895 ein eigenes Antiquariat.
Um die Jahrhundertwende ist München ein Zentrum des europäischen Kunst- und Antiquitätenhandels. Die meisten Geschäfte befinden sich in der Gegend zwischen Odeons-, Lenbach- und Karolinenplatz, in prächtigen Gebäuden, die an Museen oder Paläste erinnern. Hier, in der „Antiquariatsmeile“, baut auch Jacques Rosenthal ein repräsentatives Wohn- und Geschäftshaus. . In der Brienner Straße 47 (heute: 26), gegenüber von dem Kunsthaus von Julius Böhler, mit dem Rosenthal kollegial befreundet ist.
Planung und Ausstattung überlässt Jacques seinem Sohn Erwin. Der ist zwar gerade mal Zwanzig, aber er versteht schon viel vom Geschäft. Er studiert Kunstgeschichte und promoviert zum Dr. phil.
Es wird ein ganz besonderes Haus, das Opulenz, Geschmack und Gelehrsamkeit ausstrahlt. Von der Straße gelangt man in einen großen Ausstellungssaal, dessen Wände mit blauer Textiltapete bekleidet sind. Ein Nebenraum ist wie eine Kapelle gestaltet, mit einem dreiflügeligen Altar in einer nachgeahmten Apsis. Geschmackvolle Vitrinen zeigen hinter Glas wertvolle Bücher und Kunstwerke, auf den Böden liegen kostbare Teppiche, antike Globen sind auf Tischen ausgestellt.
Gute Jahre für die Familie Rosenthal
1912 heiratet Erwin Margherita Olschki. Sie ist die Tochter von Leo Olschki, einem engen Freund der Rosenthals. Jacques und Emma können sich bald über fünf Enkelkinder freuen.
Erwin wird nach seiner Promotion Juniorteilhaber der väterlichen Firma. Er publiziert eine eigene wissenschaftliche Schriftenreihe: „Beiträge zur Forschung. Studien und Mitteilungen aus dem Antiquariat Jacques Rosenthal München“. Das Antiquariat gewinnt auch international an Ansehen, gründet Zweigfilialen in Berlin und in der Schweiz.
Boykott und Verdrängung jüdischer Geschäfte
Doch die Weltwirtschaftskrise 1929 macht dem Antiquariatshandel schwer zu schaffen. Märkte brechen weg, der Absatz sinkt, und in den Geschäftsräumen herrscht eine unangenehme Stille. Dann kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Am 1. April 1933 trifft ihr Boykott jüdischer Geschäfte auch das Antiquariat, das an diesem Tag eine Ausstellung zu mittelalterlichen Handschriften eröffnet. SA-Wachen stehen vor dem Haupteingang und versuchen, Interessent:innen am Betreten der Ausstellungsräume zu hindern.
Ende August 1935 erteilt die Reichskulturkammer jüdischen Kunsthändler:innen Berufsverbot und zwingt sie zum Abwickeln ihrer Geschäfte innerhalb von vier Wochen. Erwin Rosenthal protestiert in einem Schreiben vom 2. September 1935 dagegen:
„Es berührt mich schmerzlich, dass Sie mir die persönliche berufliche Zuverlässigkeit absprechen. Ich gehöre einer Familie an, in der die Beschäftigung mit dem Buchantiquariat seit fast 100 Jahren erblich ist… eine Auflösung innerhalb vier Wochen würde bedeuten, dass ich meinen Lagerbestand von etwa 500000 Bänden, darunter etwa 4000 Drucke des 15. Jahrhunderts und hunderte von mittelalterlichen Manuskripten einfach verschleudern muss.“
Erwin Rosenthal gewinnt dadurch nur einen Aufschub. Er verkauft das Haus und die Firma. An dem repräsentativen Firmensitz haben verschiedene Organisationen der NSDAP Interesse, denn das ganze Areal um den Königsplatz wird von den Nationalsozialisten zum Parteiviertel umstrukturiert. So ziehen in die ehemals der Kunst und Wissenschaft gewidmeten Räume die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und die Parteiorganisation „Kraft durch Freude“ ein.
Ein Lebenswerk in Trümmern
Jacques und Emma ziehen in das nahegelegene Regina-Palast-Hotel am Maximiliansplatz. Beide sind nicht mehr gesund und scheuen eine Emigration. Ihr Lebenswerk liegt in Trümmern: Die Firma und das Haus sind verloren, das Mobiliar muss verschleudert werden, und zahlreiche Kunstwerke, darunter das Gemälde von Friedrich von Amerling, werden beim Auktionshaus Julius Böhler gegenüber in Kommisssion genommen.
Zwei Jahre später, am 5. Oktober 1937, stirbt Jacques Rosenthal im Hotel. Sein Tod bleibt weitgehend unbeachtet, nur wenige Trauergäste geben ihm auf dem Israelitischen Friedhof in München das letzte Geleit.
rwin und seiner Frau gelingt es, ihre Kinder ins sichere Ausland zu bringen, bevor sie selber emigrieren. Emma Rosenthal bleibt aber am Maximiliansplatz. Sie ist pflegebedürftig und kann sich einen Umzug ins Ausland nicht vorstellen, trotz aller Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung. Sie muss sich eine neue Kennkarte ausstellen lassen, auf der sie mit dem vom Regime vorgeschriebenen zweiten Vornamen "Sara" unterschreibt. Sie erlebt den Horror des Novemberpogroms mit, muss ihr Tafelsilber an das Städtische Leihamt abliefern. Als sie sich 1939 doch entschließt, in die Schweiz zu fliehen, muss sie viele Schikanen des Finanzamts ertragen und hohe Abgaben zahlen. Erst Ende des Jahres darf sie ausreisen. Emma Rosenthal stirbt 1941 in Küssnacht in der Schweiz.
Restitution des "Bildnis eines jungen Mannes"
Im Rahmen der Provenienzforschung an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wird das Gemälde "Bildnis eines jungen Mannes" Jahrzehnte später untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass das Bild 1936 in die Sammlung gelangte. Der Kunsthändler Julius Böhler hatte es dem Generaldirektor Buchner im Rahmen einer größeren Tauschaktion mit weiteren Bildern angeboten. Als Emma Rosenthal sich nach dem Erlös erkundigte, erhielt sie die Auskunft, das Bild hätte nicht so viel erbracht wie erhofft, nämlich nur 350 Reichsmark.
Da der Verdacht naheliegt, dass Rosenthals keinen angemessenen Kaufpreis für das Gemälde erhalten haben und ihre Notsituation ausgenutzt wurde, stellen die Provenienzforscher:innen das Werk 2020 in der Lost Art-Datenbank ein. Dadurch entsteht der Kontakt zu den Nachfahren. Und so kann das Gemälde 2025 an die rechtmäßigen Eigentümer:innen restituiert werden.