Von Prag in die Welt
Galanteriewaren. Das klingt altmodisch. Aber diese kleinen Gegenstände aus Metall erleichtern vielen Menschen den Alltag: Haken, Ösen, Reißverschlüsse, Spangen und vor allem der Druckknopf, der nach einem patentierten Verfahren industriell hergestellt wird.
„Koh-i-Noor“ heißt der Druckknopf, ein kühner Name für ein kleines Metallteil, ist dies doch auch der Name des größten Diamanten der Welt, der die Krone der britischen Königin ziert.
Modernes Marketing
Aber das ist Teil eines modernen und mutigen Marketings des Mitbegründers der Firma, Jindřich (Heinrich, Henry) Waldes. Er ist gelernter Schlosser, hat mit der Produktion in einer einfachen Werkstatt begonnen, ist aber in kurzer Zeit zum Weltmarktführer für Galanteriewaren geworden.
Das Unternehmen Waldes & Ko. setzt erfolgreich neue Marketingstrategien ein, erfindet ein unverkennbares corporate design und ist auch in seiner Unternehmensführung fortschrittlich. Jindřich Waldes weiß, wie wichtig die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit und die Motivation seiner Arbeiter:innen für den Erfolg der ganzen Firma ist. So bietet er in seiner 1907 eröffneten Prager Fabrik seinen Angestellten nicht nur eine Kantine, sondern auch eine Bibliothek und einen Fitnessraum und baut ihnen moderne Werkswohnungen.
1916 begründet er das Waldes- bzw. Knopf-Museum und sammelt u.a. Werke seines Künstlerfreundes František Kupka. Kupka, ein Pionier der abstrakten Malerei, entwirft auch das bekannte Motiv der lächelnden jungen Frau mit dem Druckknopf im Auge.
Die Firma Waldes in Dresden, geleitet von Sigmund Waldes
Rasch expandiert die Firma Waldes in die USA, in die Schweiz, nach Österreich, Frankreich, England, Spanien und Polen und nach Deutschland, wo Sigmund Waldes, der jüngere Bruder des Firmengründers und vierter Gesellschafter, 1904 die Niederlassung in Dresden gründet. Auch hier entsteht ein stattliches Fabrikgebäude.
Im Jahre 1908 heiratet Sigmund Waldes Ida Hirsch, der Sohn Harry (1909) und die Tochter Vera (1914) werden geboren. Die Familie zieht in eine Villa in der Kaitzer Straße 30 in der Dresdener Südvorstadt. Nun kann Sigmund auch seine Sammeltätigkeit ausbauen: Er begeistert sich für die zeitgenössische Kunst, sammelt Werke von Corinth, Liebermann, Thoma und expressionistische Grafik. Dabei gilt seine Vorliebe Künstler:innen, die in Dresden oder Prag wirken. Seine Kunstwerke leiht er immer wieder aus, wenn er für Ausstellungen angefragt wird. So zeigt der Sächsische Kunstverein 1929 in einer Jubiläumsausstellung 17 Gemälde aus der Sammlung des Fabrikanten, darunter Lovis Corinths großformatiges Ölbild „Joseph und die Frau des Potiphar“.
Verdrängung jüdischer Unternehmen
Als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, wird Sigmund Waldes aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus der Firma verdrängt, muss 1938 die Firmenleitung abgeben. Verzweifelt reist er Anfang September 1938 zu seinem Bruder Jindřich nach Prag. Dieser rät ihm zu sofortiger Flucht.
Sigmund folgt dem Rat, flieht zunächst nach Paris, dann weiter in die USA. Er kann dort die Leitung einer familieneigenen Fabrik übernehmen. Er stirbt 1961 auf Long Island.
Tochter Vera schließt sich der Résistance an
Auch seiner Frau Ida, dem Sohn Harry und der Schwiegermutter Ernestine gelingt die Flucht in die USA. Die Tochter Vera bleibt in Europa. Sie schließt sich der Résistance in Paris an, wo sie ihren Mann, den tschechoslowakischen Journalisten und Widerstandskämpfer Otakar Hromádko kennenlernt.
Verfolgung und Tod des Firmengründers Jindřich Waldes
Sein Bruder Jindřich hingegen kann sich lange nicht zur Flucht entschließen. Er hat zwar weitsichtig seine Familie in Sicherheit gebracht, will aber sein Unternehmen in Prag nicht verlassen. Im Juni 1939 wird er von den Nationalsozialisten als Fabrikdirektor abgesetzt und wenig später verhaftet. Er wird erst ins KZ Dachau, dann nach Buchenwald verbracht. Gegen ein hohes Lösegeld kann seine Familie ihn freikaufen. Von Portugal aus will er in die USA emigrieren, stirbt jedoch auf der Schwelle zur Freiheit während eines Zwischenaufenthaltes seines Passagierschiffes in Kuba im Mai 1941.
Plünderung der Kunstsammlung
Unterdessen wird die Dresdener Fabrik der Familie Waldes „arisiert“, die Villa wird eine Dienststelle der SS. Auch die Kunstsammlung wird beschlagnahmt. Einige Teile der Sammlung zieht die Gestapo als „entartet“ ein – Zeichnungen und Grafiken von führenden Expressionist:innen, darunter Karl Hofer, Otto Kokoschka und Emil Nolde. Ein weiterer Teil der Kunstwerke wird für die „Sammlung Linz“, das von Hitler geplante Führermuseum ausgewählt.
Der Rest wird im Auftrag des Reichswirtschaftsministeriums und zugunsten der Deutschen Golddiskontbank vom Berliner Auktionshaus Hans W. Lange versteigert. Die Münchner Kunsthändlerin Maria Almas-Dietrich, die Hitler und andere führende Nationalsozialisten mit Kunst, oft aus vormals jüdischem Besitz beliefert, ersteigert das Gemälde „Frühlingslandschaft“ von Johann Sperl (1849-1914). Sie verkauft es an den Reichsleiter Martin Bormann, der mit Geldern der NSDAP hunderte Kunstgegenstände erwirbt, vor allem um Parteigebäude repräsentativ auszustatten.
Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wird das Gemälde von Sperl mit vielen anderen in das Salzbergwerk Altaussee in Österreich gebracht, damit es vor den Bombenangriffen geschützt ist. Dort stellen es die amerikanischen Streitkräfte nach Kriegsende sicher und bringen es im Oktober 1945 in den Central Collecting Point nach München.
Restitution des geraubten Gemäldes
Da kein Rückerstattungsantrag für das Gemälde gestellt wird, kann der Freistaat Bayern es sich gemäß alliierter Gesetzgebung 1956 zu Eigentum übertragen und an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen überweisen.
Die beiden Töchter von Harry Waldes, die in den USA leben, fordern 2019 durch ihre rechtliche Vertretung die Restitution des Gemäldes. In engem Austausch mit den Erbinnen und der von ihnen beauftragten Forscherin rekonstruiert die Provenienzforschung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen die wechselvolle Besitzgeschichte und bestätigt den Anspruch der Erbinnen. Und so kehrt das Kunstwerk nach mehr als achtzig Jahren an seine rechtmäßigen Besitzerinnen zurück.