Schwarzweißfotografie. Eisenbahnschienen
Aenne Biermann: Aus dem fahrenden Zug, 1930.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Ann und Jürgen Wilde Stiftung AJW 459 / Margarita Platis

man wird noch viel von aenne biermann hören

verkündet Das Magazin im Jahre 1931 in moderner Kleinschreibung:

hier ist eine fotografin, die ein gänzlich neues gesicht in ganz alltäglichen dingen zeigt –

die vielbeliebte neue sachlichkeit verliert unter ihren sehr zarten händen all ihre schrecken –

Aufwändiger Briefkopf der Firma Sternefeld mit Darstellungen des Schuster- und Lederhandwerks
Aenne Biermanns Großvater Wolfgang Sternefeld hatte die Leder- und Schuhfabrik gegründet. Hier ein Briefkopf der Firma.

Stadtarchiv Goch 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern

Wer hätte gedacht, dass Aenne Biermann eine berühmte Fotografin werden würde?

Geboren wird sie 1898 in eine wohlhabende, großbürgerliche Familie. Nach den Söhnen Ernst, Fritz und Otto nun eine Tochter, Anna Sibilla, für den Schuhfabrikanten Alphons und seine Frau Julie. Anna Sibilla geht nicht wie ihre Brüder auf eine höhere Schule. Für sie ist weder Studium noch Berufsausbildung vorgesehen. Ihre Eltern erkennen und fördern aber ihre musischen Begabungen, vor allem ihr Klavierspiel.

Schwarzweißfotografie. Porträt Herbert Biermann, der an Likörglas schnuppert
Aenne Biermann: Porträt Herbert Biermann, um 1928.

Museum für Angewandte Kunst Gera, Dauerleihgabe Familie Schoder

Von Goch nach Gera

Am 19. Januar 1920 gibt es im Hause Sternefeld eine Doppelhochzeit. Ernst Sternefeld heiratet Hildegard Noelle, und seine Schwester Anna heiratet den acht Jahre älteren Herbert Joseph Biermann. Sie zieht zu ihm nach Gera.

Schwarzweißfotografie. Stadtplatz mit Denkmal
Gera, Johannisplatz mit dem Textilkaufhaus Biermann.

Stadtarchiv Gera, A 2968

Dort führt Herbert zusammen mit seinem Bruder Erich ein großes, angesehenes Textilkaufhaus.

Aus Anna Sibilla wird Aenne…

Schwarzweißfotografie. Helga Biermann als Zehnjährige, sie hält einen Stift
Aenne Biermann: Tochter Helga, 1930.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Stiftung Ann und Jürgen Wilde AJW 444 / Margarita Platis

In Gera nennt sich die junge Frau „Aenne“. Nach der Geburt ihrer Kinder, der Tochter Helga (1920) und des Sohnes Gerd (1923) kauft sie eine Kamera. Wie so viele junge Eltern möchte sie die Entwicklung ihrer Kinder fotografisch festhalten.

Schwarzweißfotografie. Kinderhände auf Schreibheft.
Aenne Biermann: Kinderhände, 1928.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Stiftung Ann und Jürgen Wilde AJW 427

 

…und aus dem Fotografieren fürs Familienalbum eine ernstzunehmende Kunst

Schwarzweißfotografie. Nahaufnahme eines Gesteins.
Aenne Biermann: Achatgesicht, 1928/29.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Stiftung Ann und Jürgen Wilde AJW 1291

Bald fotografiert sie nicht mehr nur für das Familienalbum, sondern beginnt, sich ernsthaft mit der Fotografie zu beschäftigen.

Angestoßen wird dieser Prozess durch das Fotografieren von Gesteinen. Ein befreundeter Geologe, Rudolf Hundt, bittet sie, Gesteinsproben abzulichten. „Durch diese Aufgabe wurde ich zu einer genaueren Beschäftigung mit den technischen Vorbedingungen hochwertiger Bilder gezwungen,“ erinnert sich Aenne Biermann.

Schwarzweißfotografie. Innenansicht eines modernen Privatzimmers.
Wohnraum von Aenne Biermann in Gera, 1927.

Walter Müller-Wulckow: Die deutsche Wohnung der Gegenwart. Königstein 1930, S. 123

Sie sammelt selbst auch Gesteine. Teile ihrer Sammlung sind in der Vitrine in der Schrankwand ausgestellt. Den modernen Raum hat der mit den Biermanns befreundete Architekt Thilo Schoder gestaltet.

„In der sicheren, intuitiven Erfassung des optischen Reizes scheint mir das Geheimnis des überzeugenden Bildes zu ruhen.“

So beschreibt die Autodidaktin ihr Vorgehen.

Sie fotografiert Dinge, Landschaften und Pflanzen

und experimentiert mit ungewohnten Bildkompositionen, Blickwinkeln und Techniken.

1928 organisiert der Kunsthistoriker Franz Roh eine Ausstellung in München, in der Aenne Biermanns großformatige Pflanzenaufnahmen gezeigt werden.

Schwarzweißfotografie. Nahaufahme einer Klaviertastatur.
Aenne Biermann: Andante Maestoso, vor Oktober 1928.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Stiftung Ann und Jürgen Wilde AJW 430

Damit beginnt eine rege Ausstellungs- und Veröffentlichungstätigkeit, Aenne Biermanns Fotografien werden im In- und Ausland gezeigt, in Katalogen, Büchern und Magazinen veröffentlicht, sie nimmt an Wettbewerben teil und gewinnt zahlreiche Preise. Eine Phase des großen Erfolgs, aber auch des rastlosen Arbeitens. Mehr als 3.400 Negative umfasst ihr Archiv, sorgfältig nummeriert. Die Abzüge fertigt sie in ihrer Dunkelkammer selber an.

Tod mit nur 34 Jahren

Schwarzweißfotografie. Blick durch ein Fenster auf gegenüberliegende Häuser.
Aenne Biermann: Blick aus meinem Atelierfenster, 1929.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Stiftung Ann und Jürgen Wilde AJW 456

„Ihr Arbeitstag war kurz, und vielleicht hat ihr die Arbeit bis tief in die Nacht hinein beim Vergrößern und Entwickeln in der Dunkelkammer den Keim zu ihrer schweren Krankheit eingegeben“, erinnert sich der Freund Rudolf Hundt. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere Anfang der 1930er Jahre erkrankt Aenne Biermann schwer.

Farbfotografie. Inschrift auf Grabstein.
Der Grabstein von Aenne Biermann in Gera.

Bayerischer Rundfunk

Ein längerer Kuraufenthalt bringt nicht die erhoffte Besserung, und sie stirbt, erst 34 Jahre alt, am 14. Januar 1933.

Die volle Brutalität der rassistischen Verfolgung

Schwarzweißfotografie. Großes Kaufhausgebäude, davor ein Denkmal.
Das Kaufhaus Biermann nach der erfolgten „Arisierung“ durch die Firma Braun & Co.

Stadtarchiv Gera A 2880

Kurz nach Aenne Biermanns Tod kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Die jüdische Familie Biermann trifft die volle Brutalität der rassistischen Verfolgung.

Herberts Schwager Dr. Rudolf Paul erinnert sich: „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie am 1.4.1933 die Eingänge zum Geschäftshaus Biermann von SA-Abteilungen besetzt wurden, wobei diese bestrebt waren, die Käufer am Betreten des Geschäftes zu hindern.“

Herbert Biermann muss das große Textilkaufhaus, das er mit seinem Bruder Erich führt, und die Villa der Familie unter Zwang verkaufen. Beim Novemberpogrom 1938 werden beide Brüder ins KZ Buchenwald verschleppt und drei Wochen inhaftiert – drei Wochen des Grauens, wie Herbert rückblickend schreibt. Die Schwester Lilli Paul wird deportiert und ermordet.

Hintergrund

Schwarzweißfotografie. Porträt Hildegard Sternefeld, ernst blickende Frau mit Monokel.
Als „Dame mit Monokel“ hat Aenne Biermann ihre Schwägerin Hildegard Sternefeld abgelichtet. 1928/1929.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Stiftung Ann und Jürgen Wilde, AJW 428

„Trennung durch satanische Gewalt“

Die Nazis verhindern auch, dass Herbert Biermann seine Schwägerin Hildegard Sternefeld heiraten kann. Ihre Ehe mit Aennes Bruder Ernst ist geschieden, und nach Aennes Tod zieht sie mit ihrem Sohn Günther nach Gera, um dem Witwer den Haushalt zu führen. Sie ist bei ihrer Heirat zum Judentum konvertiert, gilt aber nach der Rassenideologie der Nazis als Arierin. Eine Ehe mit einem Juden ist daher ausgeschlossen. Bitter erinnert sich Herbert:

„Obwohl sie ganz an mein Schicksal gebunden war, wurde uns von den Nazis die Ehegenehmigung verweigert und damit schwand nach englischem Gesetz die letzte Möglichkeit mit ihr zusammen das Zertifikat für Palästina zu erhalten! […] Diese Trennung durch satanische Gewalt verfolgte mich jahrelang wie ein Schatten…“

Schwarzweißfotografie. Anblick eines Hafens mit Kran und Lagerhallen.
Lloydarsenal im Hafen von Triest.

Wikimedia Commons, Gemeinfrei

Die Familie flieht nach Palästina

Helga Biermann ist bereits – als Fünfzehnjährige – nach Palästina emigriert, ihr Bruder Gerd folgt 1938 nach den Novemberpogromen. Als letzter verlässt Herbert Biermann Nazi-Deutschland. Er packt zwei Liftvans – große, aus Holz gezimmerte Umzugscontainer zur Verschiffung von Hausrat, die zusammen fünfeinhalb Tonnen wiegen. In einem befindet sich vermutlich das Fotografiearchiv von Aenne Biermann. Eine Spedition aus Gera soll die Liftvans über den Mittelmeerhafen Triest nach Palästina bringen.

Herbert Biermann verlässt Gera am 29. September 1939. Er fährt mit dem Zug nach Rom und fliegt von dort aus nach Palästina, immer von der Angst getrieben, dass der Kriegsschauplatz – Polen war wenige Wochen zuvor von der deutschen Wehrmacht überfallen worden – sich ausweiten könnte. Er erreicht das rettende Ziel, muss sich aber mühevoll eine neue Existenz aufbauen.

„Die Ausreise war daher einer Flucht geglichen, bei welcher ich mich in einen Wettlauf mit den damaligen politischen und kriegerischen Verhältnissen versetzen musste. Es war damals aller Grund davon auszugehen, dass durch den Kriegseintritt Italiens das Mittelmeer vollkommen gesperrt sein wird.“
Herbert Biermann

an seinen Geraer Freund Martin Engels

Formular mit Hoheitszeichen (Adler, Hakenkreuz) und Unterschrift.
Empfangsbestätigung der beschlagnahmten Liftvans, 11. Mai 1944.

Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-09-24, Nr. 187/59

Ein künstlerisches Werk wird zerstört

Die beiden Liftvans kommen nie in Palästina an. Sie gelangen nur bis in den Freihafen von Triest, wo sie wegen des Kriegsausbruchs nicht weiterbefördert werden. Die deutschen Besatzer inspizieren den Freihafen und beschlagnahmen gezielt die Liftvans aus jüdischem Besitz. 1944 wird auch der Liftvan von Herbert Biermann geplündert. Der verwertbare Inhalt wird nach Berlin gebracht.

Was mit Aenne Biermanns Kunstwerken passiert ist, bleibt rätselhaft. Sind sie vernichtet worden? Oder befanden sie sich gar nicht im Liftvan?

Die in Gera verbliebenen Negative und Abzüge werden bei einem Bombenangriff vernichtet. So wird durch Verfolgung und Krieg fast ein gesamtes künstlerisches Werk zerstört.

Ein Bruchteil des Werks überlebt

Farbfotografie. Fotografien von Aenne Biermann im Museum.
Im Museum für Angewandte Kunst, Gera.

Bayerischer Rundfunk

Ein kleiner Teil von Aenne Biermanns Werk, etwa 400 Originalabzüge, bleibt erhalten – in Museen und privaten Sammlungen. So besitzt der Kunsthistoriker Franz Roh, ein enger Freund der Familie Biermann, zahlreiche Fotografien, wie auch der mit Biermanns befreundete Architekt Thilo Schoder. Das Sammlerehepaar Ann und Jürgen Wilde erwirbt 73 dieser Werke und übergibt sie 2010 mit ihrer Stiftung Ann und Jürgen Wilde an die Pinakothek der Moderne in München.

Die Überprüfung der Provenienzen ergibt, dass Schoder und Roh die Fotografien von Aenne Biermann selber erhalten haben. Die Herkunft ist also unbedenklich.

Die Hoffnung bleibt, dass sich doch eines Tages klärt, was mit dem Inhalt des Liftvans passiert ist, und vielleicht noch weitere Kunstwerke dieser so besonderen Künstlerin gefunden werden.

Beitrag des Bayerischen Rundfunks über Aenne Biermann

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Weitere Links

Ausstellung in Gera: Ein Brief aus Haifa

Aufsatz zu Aenne Biermann