Die Märchenwelt der Kunst
Der kleine Hans bekommt von einem Freund seiner Eltern Spielzeug aus Holz geschenkt: eigenhändig geschnitzte und bemalte Häuser, Türme und Brücken, Kirchen und Brunnen, und Figuren mit großen Hüten auf dem Kopf. Mit jedem Geburtstag, jedem Weihnachtsfest wächst seine Sammlung.
Hans baut daraus Dörfer, die aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Kein Wunder, denn das Holzspielzeug hat der Künstler Lyonel Feininger gefertigt.
Viele Jahre später erinnert sich Hans: „Alles, was Feininger berührte, wurde zu einem Zeugnis seiner Seh- und Denkweise. Die Häuser, vielgiebelig und verwunschen, hatten den Märchenreiz seiner Bilder, und die dazugehörigen Figuren mit ihren großkarierten Jacken und Pfeifen, wirkten wie amerikanische Besucher in einer deutschen Kleinstadt, fremd, neugierig und komisch.“
Hans wächst in einem ziemlich ungewöhnlichen Umfeld auf: In seinem Elternhaus in Erfurt geht die künstlerische Avantgarde der Zeit ein und aus. Das Gästebuch der Familie liest sich wie ein Lexikon des Expressionismus. Max Pechstein, Otto Mueller, Karl Schmidt-Rottluff, Wassilij Kandinsky und Christian Rohlfs – um nur einige zu nennen – haben sich mit Sprüchen und Skizzen verewigt. Einige Gäste schreiben nur ein paar Worte, andere arbeiten hingebungsvoll an kleinen Kunstwerken. Paul Klee beispielsweise bringt extra seine Siebe und Spritzapparate mit, um die „Kollidierenden Vögel“ ins Gästebuch zu zaubern.
Erfurt – Stadt der Kunst, Stadt der Industrie
Erfurt ist eine ganz besondere Stadt. Als großer Industriestandort leidet sie in der Zeit der Weimarer Republik unter der weltweiten Wirtschaftskrise und den politischen Unruhen. Doch gleichzeitig ist Erfurt, in engem Austausch mit dem nahegelegenen Bauhaus. Es entwickelt sich zu einem Zentrum des Expressionismus. Und das hat viel mit den Eltern von Hans, Alfred und Tekla Hess zu tun.
Alfred Hess kommt aus einer Familie von Schuhfabrikanten. Mit ihren vier Fabriken gehören „Maier & Louis Hess“ zu den größten Unternehmen der Stadt.
In ganz Europa werden Hess-Schuhe aus Erfurt verkauft.
Prägende Kriegserfahrung
Für seine junge Familie – seine Frau Tekla und den 1908 geborenen Hans – baut Alfred eine geräumige Villa.
Die Villa Hess um 1920 und heute.
Stadtarchiv Erfurt, Bestand 6-0/ 05 (neu), gemeinfrei – Bayerischer Rundfunk
Die ist erst einmal ganz konventionell eingerichtet, mit Jugendstilbildern und gutbürgerlichen Salonmöbeln. Doch dann kommt der Erste Weltkrieg, an dem Alfred als Freiwilliger teilnimmt. Seine Erlebnisse an der Front und die gesellschaftlichen Umbrüche nach 1918 verändern ihn und seinen Blick auf die Welt, seine ästhetischen und politischen Einstellungen.
„Er war, wie so viele, aus der Selbstverständlichkeit herausgerissen worden und mußte sich neue Fragen stellen und neue Antworten finden“, erinnert sich Hans: „Seine Antwort war: in der neuen Zeit zu leben, die neue Kunst zu verstehen und ihr zu helfen.“
Tekla und Alfred stellen sich der neuen Zeit. Ganz konkret sieht man das an ihrer Einrichtung: Aus der Villa verschwinden die Salonmöbel und der bürgerliche ornamentale Wandschmuck. „So kamen die neuen Bilder der deutschen Expressionisten und neue Freunde ins Haus“, resümiert der Sohn. Denn mit der Liebe zur modernen Kunst verbindet sich bei Familie Hess die Freundschaft mit denen, die diese Kunst erschaffen.
„Die Gastfreundschaft meiner Mutter und ihre Freude an neuen Menschen machten es den Gästen leicht, sich zum Haus gehörig und nicht wie „zu Besuch“ zu fühlen“, beschreibt Hans die Atmosphäre. In der großen Villa gehen Künstler:innen mit ihren Familien ein und aus. Unter anderem Lyonel und Julia Feininger mit ihren drei Söhnen. So kommt Hans zu seinem speziellen Holzspielzeug.
nd das Gästebuch der Familie zu mehreren kunstvollen, launigen Zeichnungen von Feininger. So wie hier die „gutartigen Gespensterchen“, die Feininger „am kürzesten Tage“ des Jahres 1922 zeichnet.
Auch in Hans‘ Zimmer hängt ein Gemälde des Künstlers, „Regenklarheit“. Die Familie lebt mit und in ihrer Kunst, kein Raum kommt ohne aus.
Das Erfurter Angermuseum profitiert ebenfalls von Hess‘ Leidenschaft für die Moderne. Es erhält von dem Unternehmer Schenkungen und Leihgaben. Und als der Direktor des Museums den kühnen Plan fasst, einen kleinen, gewölbten Raum in dem barocken Gebäude mit expressionistischen Wandbildern ausmalen zu lassen, sichert ihm Alfred Hess die Finanzierung. Der Künstler, Erich Heckel, ist auch ein Freund der Familie. Über zwei Jahre hinweg arbeitet er an dem gewaltigen Lebenspanorama.
Doch die Stimmung in der Weimarer Republik ist angespannt. Weil die Familie Hess jüdisch ist, wird sie zum Angriffsziel von Antisemiten. Dass sie sich für die Avantgarde einsetzen, macht sie nur noch verhasster. Als „jüdisch-bolschewistische Agenten“ werden sie verunglimpft. Zudem gehen die Geschäfte durch die Weltwirtschaftkrise schlecht.
Dann der Schicksalsschlag: Alfred Hess stirbt 1931 mit gerade 52 Jahren an den Folgen einer Operation.
Der Witwe Tekla und dem 23-jährigen Sohn Hans gelingt es, das Unternehmen vor dem Konkurs zu retten. Doch beide verlassen Erfurt: Hans wohnt nun in Berlin, und Tekla zieht zurück in ihre Geburtsstadt, das fränkische Lichtenfels, und nimmt die Kunstsammlung dorthin mit.
Flucht nach England
Wohn- und Geschäftshaus der Korbwarenmanufaktur Pauson, im oberfränkischen Lichtenfels 1910er Jahre und heute.
Privatarchiv Hess – public domain/Bayerischer Rundfunk
Dann kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Hans Hess flieht nach England. Tekla hingegen zögert: Sie möchte ihre Mutter nicht verlassen und bleibt daher vorerst in Lichtenfels. Sie weiß, dass ihre Kunstsammlung bei den Nationalsozialisten als „Verfallskunst“ gefährdet ist. Da kommen Anfragen aus der Schweiz wie gerufen. In Basel und in Zürich werden Gemälde aus der Sammlung Hess gezeigt. Doch aus den Plänen, die Kunstwerke in der sicheren Schweiz zu lassen, wird nichts:
schildert Tekla Hess nach dem Krieg ihre Zwangslage. Sie lässt 70 Werke an den Kölner Kunstverein schicken. Hier gehen einige Kunstwerke durch Diebstahl verloren, andere durch Kriegszerstörung. Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Berliner Straßenszene“ wird unter ungeklärten Umständen an den Frankfurter Sammler Carl Hagemann verkauft. Doch es gelingt ihr auch, einige Werke an ihren Sohn nach England zu schicken.
Neuanfang in Leicester
Nach Kriegsausbruch 1939 entscheidet sich auch Tekla zur Flucht nach England. Sie zieht nach Leicester zu ihrem Sohn Hans. Hier begegnen sie Trevor Thomas, dem Kurator des Leicester Museums. Der hat schon von der berühmten Sammlung Hess gehört, und es beginnt eine Freundschaft, die wiederum in den Plan mündet, eine Ausstellung zum deutschen Expressionismus zu veranstalten. Ihr Traum wird Wirklichkeit: im Februar 1944 zeigt des Leicester Museum Werke von Franz Marc, Max Pechstein, Wassilij Kandinsky, Erich Heckel und Lyonel Feininger.
Nach der Ausstellung erwirbt das Museum vier Werke, unter anderem die "Rote Frau" von Franz Marc. Die Familie Hess kann das Geld gut gebrauchen – Hans ist frisch verheiratet und wird demnächst Vater. Aber viel wichtiger ist, dass Trevor Thomas ihm eine Stelle als Kurator anbietet – für Hans Hess der Beginn einer Karriere als Kunsthistoriker. Und das Leicester Museum legt den Grundstock einer bedeutenden Sammlung deutscher Expressionisten.
Doch für die Familie Hess ist es bitter, dass ihre einstmals berühmte Sammlung nicht mehr existiert. Immer wieder müssen Hans und Tekla Werke verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Andere Werke gehen in den Wirren des Kriegs verloren. Noch mehr setzt ihnen zu, dass viele ihrer Verwandten den Holocaust nicht überleben. So wird der Onkel von Alfred Hess, der Fabrikant Georg Hess, im Vernichtungslager Sobibór ermordet.
Tekla Hess stirbt 1968, Hans Hess 1975. Drei Jahrzehnte später wendet sich die Tochter von Hans Hess, Anita Halpin, an das Brücke-Museum in Berlin. Sie verlangt die Rückgabe des Gemäldes „Berliner Straßenszene“. Das Land Berlin hatte es 1980 erworben. Die 2006 erfolgte Restitution ist umstritten und sorgt als „Causa Kirchner“ für heftige Diskussionen. Heute hängt die „Straßenszene“ in der Neuen Galerie in New York.
Auch die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen besitzen ein Werk aus der Sammlung Hess – ein Stillleben von Jacoba van Heemskerck, auf dessen Rückseite der Leinwand der Name Alfred Hess vermerkt ist. Weil der Verdacht auf Raubkunst nahe liegt, wird die Provenienz akribisch erforscht. Doch dieser Fall ist kein verfolgungsbedingter Verlust, denn Tekla Hess hat das Bild 1956 über ein Auktionshaus in Stuttgart verkauft.
Mit der Sammlung Hess wurde eine einzigartige Sammlung des Expressionismus zerrissen und in alle Winde zerstreut. Trotzdem resümiert der Sohn des Sammlerehepaares Hans Hess anlässlich der Veröffentlichung des Gästebuchs 1957: „Wenn es heute mit seinen farbigen Blättern aus den zwanziger Jahren in Deutschland erscheinen kann, mit den Zeichnungen und Inschriften von vielen, die einst ihren Weg ins Haus fanden und in der Kulturgeschichte ihren Namen hinterließen, so ist das ein Beweis dafür, daß die bleibenden Werte der Kunst die schlimmsten Zeiten überdauern und auf ihr Recht, in die Geschichte einzugehen, nicht verzichten.“
Beitrag des Bayerischen Rundfunks über Alfred, Tekla und Hans Hess
Weitere Links
Der Heckel-Raum im Angermuseum Erfurt →
Sammlung Alfred und Thekla Hess auf Proveana →
Leicester's German Expressionist Collection →
Ausstellung Moderne deutsche Malerei aus Privatbesitz in der Kunsthalle Basel 1933 →