Die Berolzheimers: Unternehmer und Menschenfreunde
In der Altstadt von Fürth steht ein prächtiges Jugendstilgebäude: Das Berolzheimerianum. Die jüdische Fabrikantenfamilie Berolzheimer hatte das Gebäude 1904 gestiftet. Hier gab es eine Bibliothek, eine Lesehalle, Konzertsäle und Ausstellungsräume. Denn die Berolzheimers wollten Arbeiter:innen den kostenlosen Zugang zu Büchern, Unterhaltung und Bildung ermöglichen.
Aus Franken in die USA
Die Berolzheimers sind Bleistiftfabrikanten. Vater Heinrich Berolzheimer expandiert mit Mut und Weitsicht sein fränkisches Unternehmen schon 1868 in die USA. Zwei seiner Söhne, Emil und Philipp, wandern in die USA aus und führen das Geschäft weiter. Michael, 1866 geboren, zieht es nicht so weit hinaus: Er geht lieber nach München, um dort Jura zu studieren.
Rechtsanwalt in München
1891 legt Michael Berolzheimer das Staatsexamen ab. Im Jahr darauf erlangt er mit 26 Jahren den Doktortitel. Er eröffnet eine eigene Kanzlei im Herzen Münchens. 1913 verleiht ihm der Prinzregent von Bayern, der spätere König Ludwig III., den Ehrentitel Hofrat.
Spätes Eheglück
Melitta
In den 1890er Jahren lernt Michael Berolzheimer die ein Jahr jüngere Melitta Schweisheimer kennen. Als Mutter dreier Kinder wird ihr die Entscheidung, sich von ihrem ersten Ehemann zu trennen, nicht leichtgefallen sein, vor allem, weil sie dadurch das Sorgerecht für die Kinder verliert. Doch 1903 lässt sie sich scheiden.
Im gleichen Jahr heiraten Melitta und Michael in London. Im Ausland wohl deshalb, weil die Verbindung der beiden nicht auf Wohlwollen gestoßen ist: Als geschiedene Frau ist Melitta in der Familie Berolzheimer nicht erwünscht. Doch der Groll legt sich mit den Jahren, Melitta wird als Schwägerin akzeptiert.
Melitta und Michael sind glücklich miteinander, reisen viel, pflegen ihre gemeinsamen Interessen. Sie haben keine eigenen Kinder. Michael kümmert sich aber um Melittas Kinder aus erster Ehe, Waldemar, Nelly und Robert, sowie um die Enkelkinder.
Rückzug nach Untergrainau
Ländliche Idylle am Fuß der Alpen
1908 verbringen die Berolzheimers den ersten Sommer in ihrem gerade fertiggestellten Landhaus „Hügel am Weg“ in Untergrainau. Es liegt auf einer Anhöhe etwa 100 Kilometer südlich von München im Werdenfelser Land, zwischen Bahnhof und Eibsee.
„Wir fühlen uns hier sehr behaglich, die Luft ist herrlich, die Landschaft grossartig und unser Häuschen angenehm.“
Michael an seinen Bruder Philip und seine Schwägerin Clara, 3. August 1908
Die Sommerfrische wird zur Heimat
Die Alpenausläufer sind in diesen Jahren nicht nur bei Ausflugsgästen und Touristen beliebt, sondern auch bei wohlhabenden Städtern, die sich hier Ferienhäuser errichten.
Für die Berolzheimers ist Untergrainau aber mehr als eine ‚Sommerfrische‘. Ihr Landhaus ist Zentrum des Familienlebens. Sie empfangen Gäste, darunter Musiker, Maler, Schriftsteller und Theologen. Und so entscheiden sie sich 1919, Untergrainau zu ihrem Hauptwohnsitz zu machen.
Der zurückgezogene Gelehrte
Nun widmet sich Michael Berolzheimer intensiv der genealogischen Erforschung jüdischer Familien in Bayern. Wichtige Quellen sind neben eigenen Archivrecherchen umfangreiche Briefwechsel mit Ahnenforschern und Gelehrten. Seine Unterlagen sind heute eine wichtige Grundlage für die fränkisch-jüdische Familienforschung.
Der Erste Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg hinterlässt auch in Untergrainau seine Spuren. Es sind bange Zeiten: Beide Söhne von Melitta, Robert und Waldemar, kämpfen an der Front und werden verwundet.
Melitta richtet in ihrem Landhaus eine Annahmestelle für Briefe und Päckchen ein, die an die Soldaten geschickt werden, und stellt Räume als Lazarett zur Verfügung. Die Berolzheimers helfen Bedürftigen mit Lebensmitteln und Kleidung. Michael unterstützt viele Grainauer Bürger in Rechtsangelegenheiten, oft ohne ein Honorar zu verlangen.
Nach dem Krieg setzt sich Michael Berolzheimer zusammen mit dem katholischen Pfarrer dafür ein, dass ein Denkmal für die 20 Gefallenen des Ortes errichtet wird.
Kunstsammler und Kunstexperte
Die Kunstsammlung
Michael Berolzheimer liebt und sammelt Kunst, vor allem Zeichnungen, Aquarelle und Druckgrafiken. Er besitzt auch einige Gemälde und Skulpturen aus dem 19. Jahrhundert.
In den Münchner Kunstkreisen wird Berolzheimer als Experte sehr geschätzt. Er ist ehrenamtlich für die Ankaufskommission der Alten Pinakothek und für die Graphischen Sammlungen tätig.
Zwei Rodins für Untergrainau
Das Ehepaar Berolzheimer besucht 1912 Auguste Rodin in Frankreich und kauft zwei Bronzen des berühmten Bildhauers. Die überlebensgroße Figur „Saint Jean-Baptiste“ (Johannes der Täufer) ziert fortan den Untergrainauer Garten. Die andere, „L’homme au nez cassé“ (Der Mann mit der gebrochenen Nase), steht auf Berolzheimers Schreibtisch.
Vertreibung
Bedrohung der Idylle
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verändert auch das Leben in Untergrainau. Jüdinnen und Juden werden immer mehr vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Obwohl Michael Berolzheimer als Wohltäter und engagierter Bürger großes Ansehen genossen hat, wird er 1937 aus dem Adressbuch seines Heimatortes gestrichen. Selbst seine Verdienste um das Denkmal zu Ehren der Gefallenen werden in einer antisemitischen Kehrtwende in ein negatives Licht gerückt.
Flucht zur amerikanischen Familie
Melitta und Michael Berolzheimer verlassen am 25. Juli 1938 gerade noch rechtzeitig Untergrainau und emigrieren in die USA. Nur zwei Tage später fordert das Landratsamt, die Pässe der Berolzheimers zu beschlagnahmen – eine Ausreise wäre dann nicht mehr möglich gewesen. Neben Hausrat, Büchern und Dokumenten können die Berolzheimers auch einen Teil der Kunstsammlung ausführen. In New York werden sie von Michaels Bruder Philip und dessen Frau Clara empfangen und unterstützt.
Auszug aus Melittas Brief an Frances Greenhood vom 27. Juli 1938 (Familienarchiv).
„Und nun haben wir hier Abschied genommen …“,
schreibt Melitta in Zürich, kurz nachdem das Paar Deutschland verlassen hat.
Versteigerung
Die nach der Ausreise der Berolzheimers in Untergrainau zurückgelassenen Zeichnungen und Grafiken werden im März 1939 von dem Münchener Auktionshaus Adolf Weinmüller versteigert. Der Erlös der Auktion wird von staatlicher Seite einbehalten und zur Finanzierung der ‚Judenvermögensabgabe‘ verwendet.
Unter den Bietern sind Kuratoren großer deutscher und österreichischer Institutionen wie der Nationalgalerie in Berlin, der Kunsthalle Bremen, des Städel in Frankfurt und der Albertina in Wien. In dem Auktionskatalog sind die Blätter zwar nicht mit dem Namen ihres Besitzers bezeichnet, aber ein Sternchen deutet auf ihre Herkunft aus jüdischem Eigentum hin.
Letzte Jahre in den USA
Zum Zeitpunkt ihrer Flucht sind Melitta und Michael Berolzheimer Anfang siebzig. Sie sind von den finanziellen Schikanen der Nationalsozialisten, den Zwangsabgaben und dem Verlust des zurückgebliebenen Eigentums, stark belastet. Immer wieder erfahren sie von der Deportation und Ermordung von Familienangehörigen und Freunden.
Dazu kommen gesundheitliche Probleme. Michael, der schon länger Herzprobleme hat, stirbt am 5. Juni 1942 an Herzversagen. Melitta ist zu schwach, um an der Beerdigung teilzunehmen. Nur fünfzehn Tage später folgt sie ihrem Mann in den Tod. Ihre Enkeltochter Elsieliese vermutet: „Sie starb an gebrochenem Herzen.“
Restitution
Verbleib der Zeichnungen in Berlin
Paul Ortwin Rave, der Direktor der Berliner Nationalgalerie, kauft im März 1939 bei der Auktion Weinmüller 30 Zeichnungen aus der Sammlung Berolzheimer. Sie sind hauptsächlich von deutschen Künstlern des 19. Jahrhunderts. Wenige Monate später bricht der Zweite Weltkrieg aus. Die Zeichnungen in Berlin gelangen an verschiedene Auslagerungsorte. Der größte Teil der Berolzheimer-Blätter wird 1945 von den Sowjets beschlagnahmt und erst 1958 an die DDR zurückgegeben.
Rückgabe
Nach dem Krieg ist die Kunstsammlung von Michael Berolzheimer weit zerstreut. Seine Stiefsöhne strengen erste Entschädigungsverfahren an, aber der Verbleib vieler Werke ist nicht bekannt. Die von der Nationalgalerie erworbenen Zeichnungen befinden sich damals noch in der Sowjetunion, das Verfahren wird eingestellt.
Erst Jahrzehnte später kommt Bewegung in die Sache. 2011 gibt die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die in ihren Beständen erhaltenen Zeichnungen an die Familie zurück. Zahlreiche andere öffentliche Sammlungen restituieren ebenfalls Kunstwerke aus der Sammlung Berolzheimer an die Erben.
Nach der Rückgabe aus Berlin gelangen die Zeichnungen über die Galerie Arnoldi-Livie auf den Kunstmarkt. Dieses Porträt des Schriftstellers Alexander von Ungern-Sternberg kehrt zurück nach Berlin in die Sammlung des Kupferstichkabinetts – als „Schenkung in Erinnerung an Michael Berolzheimer von der Galerie Arnoldi-Livie“.