Zwei „Zuagroaste“ in Bayern

Farbfotografie. Aufgeschlagenes handgeschriebenes Personenregister
Eintrag von Julius Davidsohn in der Kriegsstammrolle, dem Verzeichnis aller Wehrpflichtigen.

Bayerisches Hauptstaatsarchiv 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern

Semaya Franziska und Julius Davidsohn sind „Zuagroaste“, wie man in Bayern sagt. Sie stammt aus Frankfurt am Main, er aus Hannover, geheiratet haben sie 1901 in Mannheim, und dann leben sie eine Weile in Berlin, bis ein beruflicher Wechsel sie nach Bayern führt. Julius Davidsohn wird Direktor des Graphit-Bergwerks in Untergriesbach bei Passau.

 

1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Julius Davidsohn meldet sich als Freiwilliger zum Landsturm, einer militärischen Hilfstruppe, die das bayerische Heer im Ersten Weltkrieg unterstützt.

Schwarzweißfotografie. Ruinen, im Vordergrund Soldaten
Das Dorf Wytschaete nach der Zerstörung durch die Schlacht bei Messines. In der Nähe war Julius Davidsohn eingesetzt.

John Warwick Brooke, Public domain, via Wikimedia Commons

Er besitzt den Führerschein und dient daher in der bayerischen Kraftfahr-Ersatz-Abteilung – in Flandern, wo die besonders verlustreichen Schlachten toben.

Schwarzweißfotografie. Großes Gebäude mit Glaskuppel
Das Hauptzollamt an der Landsberger Straße in München wird während des Ersten Weltkriegs zu einem Reservelazarett umfunktioniert. Hier ist Julius Davidsohn im August 1917 für drei Wochen Patient.

Stadtarchiv München, DE-1992-FS-PK-ERG-09-0153

Im Lazarett

Zwei Mal wird er so schwer krank, dass er ins Lazarett muss – das erste Mal nach Landshut, das zweite Mal nach München. Bis zum Kriegsende 1918 ist er im aktiven Dienst.

Die unruhigen Jahre der Weimarer Republik

Schwarzweißfotografie. Mehrstöckige Wohnhäuser am Hochufer eines Flusses
Die Widenmayerstraße in München.

Stadtarchiv München, DE-1992-FS-PK-STR-00737

Nach dem Krieg ziehen die Davidsohns in eine Wohnung in der Widenmayerstraße, direkt an der Isar gelegen, einen Steinwurf vom Deutschen Museum entfernt.

Es sind unruhige Zeiten. Das bayerische Königshaus wird gestürzt, es gibt Revolutionen, bürgerkriegsähnliche Zustände, Wirtschaftskrisen, und die Gesellschaft polarisiert sich zunehmend.

Als Kaufmann und Unternehmer ist Julius Davidsohn den Schwankungen der Wirtschaft besonders ausgesetzt. Die Geschäfte gehen mal gut, mal schlecht. So muss die Reklamefirma, bei der er Teilhaber ist, Anfang der 1930er Jahre Konkurs anmelden.

Schwarzweißfotografie. Porträtfoto Ludwig Hirsch. Älterer Herrn mit Glatze.
Ludwig Hirsch, der Bruder von Semaya Franziska Davidsohn.

Fotografie aus dem Kennkartendoppel. Stadtarchiv München, DE-1992-KKD-1681

Kinder haben die Davidsohns nicht. Semaya Franziska kümmert sich um ihren taubstummen Bruder Ludwig Hirsch, der mit in ihrem Haushalt lebt.

Schwarzweißfotografie. Ruine eines ausgebrannten Gotteshauses, im Vordergrund Passanten
Die Ruine der Synagoge an der Herzog-Rudolf-Straße im November 1938.

Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NS-00084 🔍 Über das Bild mit der Maus fahren, um zu vergrößern

Schrittweise Entrechtung

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ändert sich das Leben des Ehepaars. Mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zeigt sich die volle Brutalität des Regimes. Unweit der Wohnung der Davidsohns befindet sich die Synagoge an der Herzog-Rudolf-Straße, eine der vielen Synagogen im Deutschen Reich, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November zerstört wird.

Nach der Reichspogromnacht werden über 1000 jüdische Männer ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Darunter auch Julius Davidsohn. Bis zum 20. November 1938 ist er dort inhaftiert.

Gerade nach Hause heimgekehrt, setzen sich die Schrecken fort.

Hintergrund

Ein systematischer Kunstraub

Farbfotografie. Eingangstür eines Wohnhauses
Eingangstür Widenmayerstraße 45 heute.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Am 25. November 1938 klingelt es bei den Davidsohns. Vor der Wohnungstür stehen die Gestapo und der Antiquitätenhändler Ludwig Schrettenbrunner. Sie kommen, um die Kulturgüter der Davidsohns zu beschlagnahmen.

Das ältere Ehepaar muss ohnmächtig zusehen, wie seine Bilder, das geschnitzte Relief aus Elfenbein, das Schillers „Lied von der Glocke“ darstellt, und die prächtige Suppenterrine aus Nymphenburger Porzellan hinausgetragen werden zu dem Möbelwagen, der unten vor dem Haus wartet.

Schwarzweißfotografie. Elisabeth, Golo, Katja Mann, Alfred und Hedwig Pringsheim, Thomas Mann, in sommerlicher Kleidung vor Ferienhaus.
In glücklicheren Tagen: Alfred Pringsheim feiert seinen 80. Geburtstag. Vor dem Ferienhaus der Familie Mann auf der Kurischen Nehrung stehend von links: Elisabeth, Golo und Katja Mann, Alfred und Hedwig Pringsheim, Thomas Mann, September 1930.

ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fritz Krauskopf / TMA_0212

Nicht nur die Davidsohns werden in diesen Tagen kurz nach der „Reichskristallnacht“ im November 1938 beraubt. In rund 70 Wohnungen jüdischer Menschen in und um München ereignen sich ähnliche Szenen. Eine Kunstraubaktion, akribisch geplant mit der Hilfe von Kunst- und Museumsexperten und durchgeführt unter dem perfiden Vorwand, die Kunstwerke vor Vernichtung oder Plünderung schützen zu wollen. Opfer sind zuerst die Besitzer:innen großer, bekannter Sammlungen in München – beispielsweise das Ehepaar Alfred und Hedwig Pringsheim. Die Schwiegereltern Thomas Manns müssen ihre Stadtvilla an die Nazis zwangsveräußern und wohnen nun unweit der Davidsohns ebenfalls in der Widenmayerstraße, Hausnummer 35.

Schwarzweißfotografie. Aufwendige Silberschmiedearbeiten in einer mit Samt ausgeschlagenen Vitrine.
Die Silbersammlung von Alfred Pringsheim.

Privatbesitz

Die Kunstsammlung der Pringsheims ist berühmt, Alfred Pringsheim ist leidenschaftlicher Sammler von Silberschmiedearbeiten der Renaissance. 96 dieser Kunstwerke beschlagnahmt die Gestapo am 21. November 1938.

Mit Schreibmaschine geschriebene Liste, handschriftlich ergänzt
Beschlagnahmungsprotokoll der Gestapo vom 25. November 1938.

Bayerisches Nationalmuseum, Dok. 199, Mappe 3

Doch kurz darauf trifft es auch Personen, die nur wenige Kunstwerke besitzen. So wie zehn Hausnummern weiter die Davidsohns.

Was die Gestapo aus ihrer Wohnung herausträgt, weiß man genau: Säuberlich wird auf einem Protokoll jeder Gegenstand vermerkt, gleich mit der Einschätzung des Wertes .

Schwarzweißabbildung. Postkarte, die einen großen Museumsbau mit Türmen zeigt
Das Bayerische Nationalmuseum, 1926.

Public domain, via Wikimedia Commons

Die beschlagnahmten Kunstgegenstände werden in ein Depot des Bayerischen Nationalmuseums verbracht und 1940 den Münchener Museen zum Kauf angeboten. Das Bayerische Nationalmuseum kauft die Porzellanterrine.

Zwangsumzüge und Deportation

Eingang zum Konzentrationslager Theresienstadt.

Bundesarchiv Bild 183-C0716-0049-019

Für die Davidsohns geht der Leidensweg weiter.

1939 müssen sie die Wohnung in der Widenmayerstraße verlassen und die folgenden Jahre in sogenannten Judenhäusern wohnen. Julius Davidsohn muss schwere Zwangsarbeit leisten. Schließlich werden sie in das Internierungslager in Berg am Laim verbracht und von dort am 16. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Die grauenvollen Lebensumstände im Konzentrationslager überleben sie nicht: Julius Davidsohn kommt am 11. August 1942 ums Leben, Semaya Franziska am 24. April 1943.

Auch Ludwig Hirsch, Semayas Bruder, stirbt in Theresienstadt.

Hintergrund

Schwarzweißfotografie. Porträt Siegfried Neuland, Herr mit Brille, in Anzug und Krawatte.
Rechtsanwalt Siegfried Neuland, Freund der Familie Davidsohn.

Bayerischer Senat, Bildarchiv 169 000

Kurz vor ihrer Deportation ernennt Semaya Franziska Davidsohn den Münchener Rechtsanwalt Siegfried Neuland zu ihrem Testamentsvollstrecker. Neuland ist mit den Davidsohns freundschaftlich bekannt, wie er später berichtet:

„Als ich bis 1937 in Schwabing wohnte, bin ich häufig an Sonntagabenden zum Schachspielen mit Herrn Julius Davidsohn in die Wohnung Davidsohn nach der Widenmayerstr. 45 gekommen. Es war eine sogenannte Herrschaftswohnung. Ich habe hierbei beobachten können, dass die Wohnung eine noble Einrichtung besass. Sie war sehr gut möbliert, es waren Perserteppiche gelegt und es waren Bilder vorhanden.“

Farbfotografie. Gerahmtes Relief aus Holz und Elfenbein
Lied von der Glocke. Tafel mit neun Elfenbeinreliefs.

Bayerisches Nationalmuseum

Siegfried Neuland ist selber als Jude vom NS-Regime verfolgt worden. Nach dem Krieg initiiert er die Neugründung der Israelitischen Kultusgemeinde in München, ein Erbe, das seine Tochter Charlotte Knobloch weiterführt. Und er kämpft für die Rechte seiner jüdischen Mandant:innen, setzt sich dafür ein, dass das geraubte Eigentum an die rechtmäßigen Erb:innen der Davidsohns zurückgegeben wird. Doch das Landgericht München weist seine Ansprüche mit der Begründung zurück, dass keine fristgemäße Anmeldung erfolgt ist. Die Kunstwerke der Davidsohns werden 1955 an Bayerische Museen überwiesen. Die fünf Gemälde gehen an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die drei französischen Farbstiche an die Staatliche Graphische Sammlung und die Elfenbeintafel an das Bayerische Nationalmuseum.

Schwierige Suche nach den Erben

Weltkarte mit Markierungen
Die Verwandten der Davidsohns sind vor den Nationalsozialisten in die ganze Welt geflohen.

Google My Maps

Beim Erforschen der Museumsbestände sechzig Jahre später stellen Provenienzforscher:innen fest, dass es sich bei den fünf Gemälden eindeutig um einen verfolgungsbedingten Verlust handelt. Die Kunstwerke sollen zurückgegeben werden. Aber an wen?

Das Ehepaar Davidsohn hatte keine Kinder, und so waren die Cousins und Cousinen von Semaya Franziska erbberechtigt. Doch die Familie ist aufgrund der Flucht vor den Nationalsozialisten auf der ganzen Welt verteilt, die Erbensuche ist schwierig. Zwei Jahre brauchen professionelle Erbenforscher:innen, um Nachkommen in Deutschland, England, den USA, Israel und Zimbabwe ausfindig zu machen.

Farbfotografie. Mehrere Personen vor einem Gemälde
Restituierung von Kunstwerken an die Nachfahr:innen der Familie Davidsohn.

Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst / Andreas Gebert

Dann können die Kunstwerke 2019 endlich zurückgegeben werden. Hardy Langer, der Sprecher der Erbengemeinschaft, nimmt sie stellvertretend für die anderen Erbberechtigten entgegen. Er erzählt während der Restitution etwas sehr Bewegendes aus seiner Familiengeschichte. Seine Großmutter Emma war die Cousine von Semaya Franziska Davidsohn. Sie konnte die Nazi-Zeit in Deutschland überleben – im prekären Schutz der „Mischehe“, weil ihr nicht-jüdischer Mann unerschütterlich zu ihr hielt.

Beitrag des Bayerischen Rundfunks über Julius und Semaya Franziska Davidsohn

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