Zwei „Zuagroaste“ in Bayern
Semaya Franziska und Julius Davidsohn sind „Zuagroaste“, wie man in Bayern sagt. Sie stammt aus Frankfurt am Main, er aus Hannover, geheiratet haben sie 1901 in Mannheim, und dann leben sie eine Weile in Berlin, bis ein beruflicher Wechsel sie nach Bayern führt. Julius Davidsohn wird Direktor des Graphit-Bergwerks in Untergriesbach bei Passau.
1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Julius Davidsohn meldet sich als Freiwilliger zum Landsturm, einer militärischen Hilfstruppe, die das bayerische Heer im Ersten Weltkrieg unterstützt.
Er besitzt den Führerschein und dient daher in der bayerischen Kraftfahr-Ersatz-Abteilung – in Flandern, wo die besonders verlustreichen Schlachten toben.
Im Lazarett
Zwei Mal wird er so schwer krank, dass er ins Lazarett muss – das erste Mal nach Landshut, das zweite Mal nach München. Bis zum Kriegsende 1918 ist er im aktiven Dienst.
Die unruhigen Jahre der Weimarer Republik
Nach dem Krieg ziehen die Davidsohns in eine Wohnung in der Widenmayerstraße, direkt an der Isar gelegen, einen Steinwurf vom Deutschen Museum entfernt.
Es sind unruhige Zeiten. Das bayerische Königshaus wird gestürzt, es gibt Revolutionen, bürgerkriegsähnliche Zustände, Wirtschaftskrisen, und die Gesellschaft polarisiert sich zunehmend.
Als Kaufmann und Unternehmer ist Julius Davidsohn den Schwankungen der Wirtschaft besonders ausgesetzt. Die Geschäfte gehen mal gut, mal schlecht. So muss die Reklamefirma, bei der er Teilhaber ist, Anfang der 1930er Jahre Konkurs anmelden.
Kinder haben die Davidsohns nicht. Semaya Franziska kümmert sich um ihren taubstummen Bruder Ludwig Hirsch, der mit in ihrem Haushalt lebt.
Schrittweise Entrechtung
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ändert sich das Leben des Ehepaars. Mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zeigt sich die volle Brutalität des Regimes. Unweit der Wohnung der Davidsohns befindet sich die Synagoge an der Herzog-Rudolf-Straße, eine der vielen Synagogen im Deutschen Reich, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November zerstört wird.
Nach der Reichspogromnacht werden über 1000 jüdische Männer ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Darunter auch Julius Davidsohn. Bis zum 20. November 1938 ist er dort inhaftiert.
Gerade nach Hause heimgekehrt, setzen sich die Schrecken fort.
Ein systematischer Kunstraub
Am 25. November 1938 klingelt es bei den Davidsohns. Vor der Wohnungstür stehen die Gestapo und der Antiquitätenhändler Ludwig Schrettenbrunner. Sie kommen, um die Kulturgüter der Davidsohns zu beschlagnahmen.
Das ältere Ehepaar muss ohnmächtig zusehen, wie seine Bilder, das geschnitzte Relief aus Elfenbein, das Schillers „Lied von der Glocke“ darstellt, und die prächtige Suppenterrine aus Nymphenburger Porzellan hinausgetragen werden zu dem Möbelwagen, der unten vor dem Haus wartet.
Nicht nur die Davidsohns werden in diesen Tagen kurz nach der „Reichskristallnacht“ im November 1938 beraubt. In rund 70 Wohnungen jüdischer Menschen in und um München ereignen sich ähnliche Szenen. Eine Kunstraubaktion, akribisch geplant mit der Hilfe von Kunst- und Museumsexperten und durchgeführt unter dem perfiden Vorwand, die Kunstwerke vor Vernichtung oder Plünderung schützen zu wollen. Opfer sind zuerst die Besitzer:innen großer, bekannter Sammlungen in München – beispielsweise das Ehepaar Alfred und Hedwig Pringsheim. Die Schwiegereltern Thomas Manns müssen ihre Stadtvilla an die Nazis zwangsveräußern und wohnen nun unweit der Davidsohns ebenfalls in der Widenmayerstraße, Hausnummer 35.
Die Kunstsammlung der Pringsheims ist berühmt, Alfred Pringsheim ist leidenschaftlicher Sammler von Silberschmiedearbeiten der Renaissance. 96 dieser Kunstwerke beschlagnahmt die Gestapo am 21. November 1938.
Doch kurz darauf trifft es auch Personen, die nur wenige Kunstwerke besitzen. So wie zehn Hausnummern weiter die Davidsohns.
Was die Gestapo aus ihrer Wohnung herausträgt, weiß man genau: Säuberlich wird auf einem Protokoll jeder Gegenstand vermerkt, gleich mit der Einschätzung des Wertes .
Die beschlagnahmten Kunstgegenstände werden in ein Depot des Bayerischen Nationalmuseums verbracht und 1940 den Münchener Museen zum Kauf angeboten. Das Bayerische Nationalmuseum kauft die Porzellanterrine.
Zwangsumzüge und Deportation
Für die Davidsohns geht der Leidensweg weiter.
1939 müssen sie die Wohnung in der Widenmayerstraße verlassen und die folgenden Jahre in sogenannten Judenhäusern wohnen. Julius Davidsohn muss schwere Zwangsarbeit leisten. Schließlich werden sie in das Internierungslager in Berg am Laim verbracht und von dort am 16. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Die grauenvollen Lebensumstände im Konzentrationslager überleben sie nicht: Julius Davidsohn kommt am 11. August 1942 ums Leben, Semaya Franziska am 24. April 1943.
Auch Ludwig Hirsch, Semayas Bruder, stirbt in Theresienstadt.
Kurz vor ihrer Deportation ernennt Semaya Franziska Davidsohn den Münchener Rechtsanwalt Siegfried Neuland zu ihrem Testamentsvollstrecker. Neuland ist mit den Davidsohns freundschaftlich bekannt, wie er später berichtet:
„Als ich bis 1937 in Schwabing wohnte, bin ich häufig an Sonntagabenden zum Schachspielen mit Herrn Julius Davidsohn in die Wohnung Davidsohn nach der Widenmayerstr. 45 gekommen. Es war eine sogenannte Herrschaftswohnung. Ich habe hierbei beobachten können, dass die Wohnung eine noble Einrichtung besass. Sie war sehr gut möbliert, es waren Perserteppiche gelegt und es waren Bilder vorhanden.“
Siegfried Neuland ist selber als Jude vom NS-Regime verfolgt worden. Nach dem Krieg initiiert er die Neugründung der Israelitischen Kultusgemeinde in München, ein Erbe, das seine Tochter Charlotte Knobloch weiterführt. Und er kämpft für die Rechte seiner jüdischen Mandant:innen, setzt sich dafür ein, dass das geraubte Eigentum an die rechtmäßigen Erb:innen der Davidsohns zurückgegeben wird. Doch das Landgericht München weist seine Ansprüche mit der Begründung zurück, dass keine fristgemäße Anmeldung erfolgt ist. Die Kunstwerke der Davidsohns werden 1955 an Bayerische Museen überwiesen. Die fünf Gemälde gehen an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die drei französischen Farbstiche an die Staatliche Graphische Sammlung und die Elfenbeintafel an das Bayerische Nationalmuseum.
Schwierige Suche nach den Erben
Beim Erforschen der Museumsbestände sechzig Jahre später stellen Provenienzforscher:innen fest, dass es sich bei den fünf Gemälden eindeutig um einen verfolgungsbedingten Verlust handelt. Die Kunstwerke sollen zurückgegeben werden. Aber an wen?
Das Ehepaar Davidsohn hatte keine Kinder, und so waren die Cousins und Cousinen von Semaya Franziska erbberechtigt. Doch die Familie ist aufgrund der Flucht vor den Nationalsozialisten auf der ganzen Welt verteilt, die Erbensuche ist schwierig. Zwei Jahre brauchen professionelle Erbenforscher:innen, um Nachkommen in Deutschland, England, den USA, Israel und Zimbabwe ausfindig zu machen.
Dann können die Kunstwerke 2019 endlich zurückgegeben werden. Hardy Langer, der Sprecher der Erbengemeinschaft, nimmt sie stellvertretend für die anderen Erbberechtigten entgegen. Er erzählt während der Restitution etwas sehr Bewegendes aus seiner Familiengeschichte. Seine Großmutter Emma war die Cousine von Semaya Franziska Davidsohn. Sie konnte die Nazi-Zeit in Deutschland überleben – im prekären Schutz der „Mischehe“, weil ihr nicht-jüdischer Mann unerschütterlich zu ihr hielt.