Der „Anschluss“

Schwarzweißfotografie. Hitler als Redner auf Tribüne, Menschenmassen auf dem Platz davor.
In seiner Rede am 15. März 1938 verkündet Adolf Hitler vom Balkon der Neuen Hofburg das Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich der Nationalsozialisten. Die Menschen auf dem Wiener Heldenplatz jubeln ihm zu.

Bundesarchiv, Bild 183-1987-0922-500

Am 12. März 1938 marschieren deutsche Truppen in Österreich ein. Nun haben die Nationalsozialisten auch in Österreich das Sagen. Für Menschen, die nicht in die rassistische Ideologie eines „rein arischen Volkskörpers“ passen, bedeutet das: Entrechtung, Enteignung und Verfolgung.

Eine kunstsinnige Familie

Schwarzweißfotografie. Porträt Julius Kien, älterer Herr mit Halbglatze und Schnurrbart, in Anzug und Krawatte.
Der Unternehmer Julius Kien.

Familienarchiv Kien

Auch für Julius Kien ändert sich das Leben schlagartig. Bis jetzt ging es in seinem Leben nur bergauf. 1868 in der mährischen Provinz geboren, zieht die Familie Kien – Vater Josef, Mutter Minna und sechs Kinder – gegen Ende des Jahrhunderts nach Wien. Josef ist Bauunternehmer und kann es sich leisten, seine Kinder auf die Universität gehen zu lassen. Sohn Stefan beispielsweise studiert Medizin, er wird Medizinalrat und Chefarzt der Bundespolizeidirektion in Wien.

Farbfotografie. Mehrstöckiges Gebäude
In diesem Gebäude am Rooseveltplatz 10 im neunten Wiener Bezirk befand sich die Handelsagentur von Julius Kien.

Bayerischer Rundfunk

Julius Kien gründet eine Handelsagentur, deren repräsentativer Firmensitz direkt hinter der Votivkirche am Alsergrund liegt. Man fährt zur Sommerfrische ins Salzkammergut, nach Bad Aussee, Bad Ischl oder Gmunden.

Schwarzweißfotografie. Adele und Julius Kien mit drei kleinen Kindern.
Adele und Julius Kien mit ihren Kindern Friedrich, Walter und Hedwig, 1905.

Familienarchiv Kien

Julius und seine Frau Adele, geb. Fischl, heiraten 1899. Sie bekommen drei Kinder: Walter im Jahr 1900, Hedwig 1903 und schließlich Friedrich 1904.

Grafik. Titel einer Zeitschrift mit Abbildung eines Segelschiffes.
Die Flagge. In dieser Zeitschrift wird der Eintritt von Julius Kien in den Flottenverein verkündet.

An dem vielfältigen kulturellen und gesellschaftlichen Leben Wiens nimmt die Familie Kien regen Anteil. So tritt Julius Kien um 1911 dem Österreichischen Flottenverein bei, einem Zusammenschluss von patriotischen Staatsbürger:innen Österreich-Ungarns, um die Seemacht des Habsburger Reiches zu unterstützen.

Schwarzweißfotografie. Walter, Friedrich, Julius und Adele Kien, Hedwig und Edgar Spiegel, sorgfältig gekleidet.
Familienfoto: Die Eltern Julius und Adele (geb. Fischl) mit ihren erwachsenen Söhnen Walter und Friedrich (links vom Vater) und der Tochter Hedwig mit Ehemann Edgar Spiegel (rechts von der Mutter).

Familienarchiv Kien

An Kunst und Kultur haben die Kiens großes Interesse. Tochter Hedwig promoviert in Kunstgeschichte. Wie ihr Vater ist sie von der Kultur Ostasiens begeistert. Beide sind Mitglied im „Verein der Freunde asiatischer Kunst und Kultur in Wien“. Die Familie baut eine eigene Kunstsammlung auf. Darin schlägt sich ihre Faszination für Asien nieder: Sie besitzen antike chinesische Keramik und Netsuke, kleine geschnitzte Figuren aus Japan.

Schwarzweißfotografie. Innenansicht eines mit Antiquitäten und Teppichen eingerichteten Wohnzimmers.
Das Wohnzimmer der Familie Kien in der Starkfriedgasse 10 im 18. Wiener Bezirk.

Familienarchiv Kien

Auch zahlreiche Gemälde befinden sich in der Sammlung, Alte Meister, aber auch moderne Maler wie Klimt und Schiele. Immer wieder werden die Kiens angefragt, ob sie ihre Kunstwerke für Ausstellungen ausleihen, und so ist ihr „Blumenstillleben“, das dem Brueghel-Kreis zugeordnet wird, in Wien mehrmals für die Öffentlichkeit zu sehen.

Die Familie muss fliehen

Schwarzweißfotografie. Ruine eines ausgebrannten Gotteshauses, im Vordergrund Passanten
Jan Brueghel (Werkstattreplik): Blumenstillleben.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Nach dem „Anschluss“ beginnen sofort die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung. Schon im Juli 1938 muss Julius Kien seine Vermögenswerte offenlegen. Säuberlich listet er in dem „Verzeichnis über das Vermögen von Juden“ alles auf, was er besitzt. Den Kiens ist schnell klar, dass Flucht die einzige Rettung ist. Doch um das Land zu verlassen, müssen sie erst die von den Nationalsozialisten festgelegte Judenvermögensabgabe und die Reichsfluchtsteuer bezahlen. Die immensen Summen bestreitet Julius Kien aus dem Verkauf seiner Kunstgegenstände. So gibt er auch das Blumenstillleben, das dem Maler Jan Brueghel zugerechnet wird, in den Kunsthandel.

Noch bevor das Jahr um ist, fliehen Tochter Hedwig und Sohn Friedrich mit ihren Familien nach Australien. Erst im Jahr darauf können Julius und Adele Kien ihnen folgen.

Schwarzweißfotografie. Porträt Adele Kien als ältere Frau mit sorgfältig gescheiteltem graumeliertem Haar.
Adele Kien.

Familienarchiv Kien

Es sind schlimme Jahre für die Familie Kien. Im Juli 1942 erklären die Nationalsozialisten Julius Kien als staatenlos und beschlagnahmen sein Haus, seinen Grundbesitz und das restliche Vermögen. Adele Kien stirbt 1943 im australischen Exil.

Schwarzweißfotografie. Porträt Julius Kien als älterer Herr in Anzug und Krawatte.
Julius Kien im Alter von 80 Jahren.

Familienarchiv Kien

Im selben Jahr werden die Schwestern von Julius, Emma und Charlotte, in Auschwitz ermordet.

Julius Kien stirbt 1949 in Sydney.

Der Weg des Blumenstilllebens

Schwarzweißfotografie. Gerichtssaal, in der Mitte Fritz Thyssen.
Spruchkammerverfahren gegen Fritz Thyssen (Bildmitte), Frankfurt am Main.

bpk-Bildagentur No. 30013986

Das Blumenstillleben kauft der Unternehmer Fritz Thyssen für seine umfangreiche Kunstsammlung. Thyssen steht auf der Seite der Nationalsozialisten und unterstützt ihren Aufstieg. Später überwirft er sich mit dem Regime und flieht nach Frankreich, doch seine Hoffnung, nach Argentinien ausreisen zu können, erfüllt sich nicht: 1940 liefert das Vichy-Regime ihn und seine Frau Amélie nach Deutschland aus. Dort werden sie in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Nach dem Krieg wird Thyssen im Entnazifizierungsverfahren als „minderbelastet“ eingestuft.

Farbfotografie. Rückseite eines gerahmten Gemäldes.
Rückseite des Blumenstilllebens. Rechts die Aufkleber von zwei Ausstellungen in Wien.

Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Die Kunstsammlung Thyssen wird 1992 von dem Bayerischen Nationalmuseum und den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen erworben. So kommt das Blumenstillleben in die Alte Pinakothek.

Als die zuständige Kuratorin das Gemälde im Jahr 2012 untersucht, kommt sie zu dem Schluss, dass es kein originaler Brueghel ist, sondern eine Werkstattreplik. Bei der Begutachtung fallen ihr zwei Aufkleber auf der Rückseite auf. Sie deuten darauf hin, dass das Gemälde in den Dreißiger Jahren in Wien auf Ausstellungen gezeigt wurden. Da dieser Zeitraum stets kritisch zu prüfen ist, schaltet sie die Provenienzforschung ein. Die Spur führt zu Julius Kien. Schnell wird klar, dass es sich um einen verfolgungsbedingten Verlust handelt. Die Suche nach den rechtmäßigen Erb:innen wird eingeleitet.

Farbfotografie. Drei Gefäße aus Keramik.
Die chinesischen Keramiken aus der Sammlung Kien.

Bayerischer Rundfunk

Und sie verläuft schnell. Denn 2006 hat das Weltmuseum Wien drei Objekte an die Nachfahr:innen von Julius und Adele Kien restituiert: ein Paar Seelenvasen und ein Keramikgefäß aus China, die unter Ausnutzung der Notsituation des jüdischen Ehepaars in die Sammlung des Museums gelangt waren. Diese Kontakte kommen auch den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zugute.

Farbfotografie. Jenny Kien, Andrea Bambi und Klaus Schrenk betrachten die Rückseite eines Gemäldes.
Juli 2012: Jenny Kien , die Enkelin von Julius Kien, begutachtet bei der Restitution die Aufkleber auf der Rückseite des Gemäldes. Von links nach rechts: Jenny Kien, Andrea Bambi (Abt. Provenienzforschung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen), Klaus Schrenk (Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen 2009-2014).

Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Einige Monate später nimmt Prof. Jenny Kien aus Israel als Sprecherin der Erbengemeinschaft das Blumenstillleben entgegen. Sie ist die Enkelin von Julius Kien. Für kurze Zeit hat sich ihr Leben mit dem ihres Großvaters überschnitten, da sie 1948 in Sydney geboren ist – ein Jahr vor dem Tod von Julius Kien.

Beitrag des Bayerischen Rundfunks über Julius Kien

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Weitere Links

Die Seelenvasen aus der Sammlung Kien im Weltmuseum Wien

Ehrung für Hedwig Spiegel, geb. Kien, auf dem Denkmal für Ausgegrenzte, Emigrierte und Ermordete des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien