Der „Anschluss“
Eine kunstsinnige Familie
Auch für Julius Kien ändert sich das Leben schlagartig. Bis jetzt ging es in seinem Leben nur bergauf. 1868 in der mährischen Provinz geboren, zieht die Familie Kien – Vater Josef, Mutter Minna und sechs Kinder – gegen Ende des Jahrhunderts nach Wien. Josef ist Bauunternehmer und kann es sich leisten, seine Kinder auf die Universität gehen zu lassen. Sohn Stefan beispielsweise studiert Medizin, er wird Medizinalrat und Chefarzt der Bundespolizeidirektion in Wien.
Julius Kien gründet eine Handelsagentur, deren repräsentativer Firmensitz direkt hinter der Votivkirche am Alsergrund liegt. Man fährt zur Sommerfrische ins Salzkammergut, nach Bad Aussee, Bad Ischl oder Gmunden.
Julius und seine Frau Adele, geb. Fischl, heiraten 1899. Sie bekommen drei Kinder: Walter im Jahr 1900, Hedwig 1903 und schließlich Friedrich 1904.
An dem vielfältigen kulturellen und gesellschaftlichen Leben Wiens nimmt die Familie Kien regen Anteil. So tritt Julius Kien um 1911 dem Österreichischen Flottenverein bei, einem Zusammenschluss von patriotischen Staatsbürger:innen Österreich-Ungarns, um die Seemacht des Habsburger Reiches zu unterstützen.
An Kunst und Kultur haben die Kiens großes Interesse. Tochter Hedwig promoviert in Kunstgeschichte. Wie ihr Vater ist sie von der Kultur Ostasiens begeistert. Beide sind Mitglied im „Verein der Freunde asiatischer Kunst und Kultur in Wien“. Die Familie baut eine eigene Kunstsammlung auf. Darin schlägt sich ihre Faszination für Asien nieder: Sie besitzen antike chinesische Keramik und Netsuke, kleine geschnitzte Figuren aus Japan.
Auch zahlreiche Gemälde befinden sich in der Sammlung, Alte Meister, aber auch moderne Maler wie Klimt und Schiele. Immer wieder werden die Kiens angefragt, ob sie ihre Kunstwerke für Ausstellungen ausleihen, und so ist ihr „Blumenstillleben“, das dem Brueghel-Kreis zugeordnet wird, in Wien mehrmals für die Öffentlichkeit zu sehen.
Die Familie muss fliehen
Nach dem „Anschluss“ beginnen sofort die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung. Schon im Juli 1938 muss Julius Kien seine Vermögenswerte offenlegen. Säuberlich listet er in dem „Verzeichnis über das Vermögen von Juden“ alles auf, was er besitzt. Den Kiens ist schnell klar, dass Flucht die einzige Rettung ist. Doch um das Land zu verlassen, müssen sie erst die von den Nationalsozialisten festgelegte Judenvermögensabgabe und die Reichsfluchtsteuer bezahlen. Die immensen Summen bestreitet Julius Kien aus dem Verkauf seiner Kunstgegenstände. So gibt er auch das Blumenstillleben, das dem Maler Jan Brueghel zugerechnet wird, in den Kunsthandel.
Noch bevor das Jahr um ist, fliehen Tochter Hedwig und Sohn Friedrich mit ihren Familien nach Australien. Erst im Jahr darauf können Julius und Adele Kien ihnen folgen.
Es sind schlimme Jahre für die Familie Kien. Im Juli 1942 erklären die Nationalsozialisten Julius Kien als staatenlos und beschlagnahmen sein Haus, seinen Grundbesitz und das restliche Vermögen. Adele Kien stirbt 1943 im australischen Exil.
Im selben Jahr werden die Schwestern von Julius, Emma und Charlotte, in Auschwitz ermordet.
Julius Kien stirbt 1949 in Sydney.
Der Weg des Blumenstilllebens
Das Blumenstillleben kauft der Unternehmer Fritz Thyssen für seine umfangreiche Kunstsammlung. Thyssen steht auf der Seite der Nationalsozialisten und unterstützt ihren Aufstieg. Später überwirft er sich mit dem Regime und flieht nach Frankreich, doch seine Hoffnung, nach Argentinien ausreisen zu können, erfüllt sich nicht: 1940 liefert das Vichy-Regime ihn und seine Frau Amélie nach Deutschland aus. Dort werden sie in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Nach dem Krieg wird Thyssen im Entnazifizierungsverfahren als „minderbelastet“ eingestuft.
Die Kunstsammlung Thyssen wird 1992 von dem Bayerischen Nationalmuseum und den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen erworben. So kommt das Blumenstillleben in die Alte Pinakothek.
Als die zuständige Kuratorin das Gemälde im Jahr 2012 untersucht, kommt sie zu dem Schluss, dass es kein originaler Brueghel ist, sondern eine Werkstattreplik. Bei der Begutachtung fallen ihr zwei Aufkleber auf der Rückseite auf. Sie deuten darauf hin, dass das Gemälde in den Dreißiger Jahren in Wien auf Ausstellungen gezeigt wurden. Da dieser Zeitraum stets kritisch zu prüfen ist, schaltet sie die Provenienzforschung ein. Die Spur führt zu Julius Kien. Schnell wird klar, dass es sich um einen verfolgungsbedingten Verlust handelt. Die Suche nach den rechtmäßigen Erb:innen wird eingeleitet.
Und sie verläuft schnell. Denn 2006 hat das Weltmuseum Wien drei Objekte an die Nachfahr:innen von Julius und Adele Kien restituiert: ein Paar Seelenvasen und ein Keramikgefäß aus China, die unter Ausnutzung der Notsituation des jüdischen Ehepaars in die Sammlung des Museums gelangt waren. Diese Kontakte kommen auch den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zugute.
Einige Monate später nimmt Prof. Jenny Kien aus Israel als Sprecherin der Erbengemeinschaft das Blumenstillleben entgegen. Sie ist die Enkelin von Julius Kien. Für kurze Zeit hat sich ihr Leben mit dem ihres Großvaters überschnitten, da sie 1948 in Sydney geboren ist – ein Jahr vor dem Tod von Julius Kien.