Eine Achterbahn von Gefühlen
„Als ich einen Brief von Generaldirektor Maaz bekommen habe, war ich überwältigt und auf einer Achterbahn von Gefühlen – gleichzeitig konnte ich es nicht glauben und war überglücklich und traurig zugleich.“ So beschreibt Miriam Friedmann ihre Gefühle, als sie erfuhr, dass sie ein Gemälde zurückerhalten wird, das einst ihren Großeltern, Selma und Ludwig Friedmann gehört hatte.
Selma und Ludwig Friedmann
Die Friedmanns sind eine angesehene Augsburger Familie. Mit ihren vier Kindern, Friedrich Georg, Anna, Elisabeth und Otto leben sie im Herzen der Stadt.
Textilfabrikanten in zweiter Generation
Die Friedmanns sind erfolgreiche Geschäftsleute. Sie führen ein Wäsche- und Wollwarenunternehmen, das Ludwig von seinen Eltern übernommen hat.
1872 gegründet, hat sich das Unternehmen zu einer der führenden Wäschefabriken in Süddeutschland entwickelt und ist ein wichtiger Arbeitgeber in Augsburg und Umgebung.
Ludwig Friedmann ist Handelsrichter an der Industrie- und Handelskammer. Er engagiert sich auch in der Israelitischen Kultusgemeinde, deren stellvertretender Vorsitzender er ist.
Die Kinder fliehen ins Ausland
Sofort nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten beginnen die Repressionen gegen die Familie Friedmann.
Der älteste Sohn Friedrich Georg wird bereits 1933 für kurze Zeit inhaftiert, er wird von der Universität ausgeschlossen. Noch im selben Jahr flieht er nach Italien. Anna Friedmann darf nach Erlass der Nürnberger Rassengesetze ihre Gesellenprüfung als Schneiderin nicht ablegen. Sie flieht 1935 nach England. 1938 darf der jüngste Sohn, Otto, nicht mehr die Schule besuchen. Um ihn zu retten schicken seine Eltern den Zwölfjährigen mit einem Kindertransport nach London. Als letzte flieht die Tochter Elisabeth in die USA. Sie ist 19 Jahre alt. Kinder und Eltern sehen sich nie wieder.
Wirtschaftliche Vernichtung
Schrittweise vernichten die Nationalsozialisten die wirtschaftliche Existenz der Familie. Ludwig Friedmann wird aus seinen Ämtern gedrängt, die Firma und das Privathaus muss er zwangsverkaufen. Das Geld geht auf ein Sperrkonto.
Erzwungener Umzug und Tod
1942 müssen Selma und Ludwig Friedmann in ein sogenanntes ‚Judenhaus‘ ziehen, wo sie auf engstem Raum mit anderen jüdischen Menschen zusammengepfercht wohnen. Hier erhalten sie den Bescheid, dass sie am 8. März 1943 deportiert werden sollen.
Sie wissen, was das bedeutet. Selmas Mutter Flora Fromm wurde im Juni 1942 in Theresienstadt ermordet, und auch von anderen Bekannten weiß man um die schrecklichen Schicksale derer, die ‚nach Osten‘ deportiert wurden.
In dieser ausweglosen Situation nehmen sich Ludwig und Selma Friedmann am Abend vor der geplanten Deportation gemeinsam mit drei befreundeten Ehepaaren das Leben.
Das Gemälde ‚Bauernstube‘ begleitet sie bis zuletzt.
‚Verwertung‘ durch die Stadt
Nach ihrem Tod räumt die Stadtverwaltung das Zimmer im ‚Judenhaus‘. Ein Beauftragter der Stadt inspiziert den hinterlassenen Besitz und markiert alle Gegenstände, die ‚verwertet‘ werden können, mit einer vierstelligen Nummer. Sie werden an das städtische Wohlfahrtsamt übergeben. Akribisch listet der Lieferschein alles auf, was Ludwig und Selma von ihrem ehemals großen Hausstand verblieben war, bis hin zur Wachstuchtischdecke und den 16 Küchentüchern.
Das Gemälde ‚Bauernstube‘ wird nach München verkauft
Das Gemälde ‚Bauernstube‘ wird dem damaligen Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Ernst Buchner, zum Kauf angeboten. In der Betreffzeile heißt es: „Verwertung von Kulturgut aus jüdischem Besitz.“ Buchner erwirbt das Gemälde im Mai 1943.
Spurensuche
„Aus jüdischem Besitz“
Mehr als siebzig Jahre später untersucht die Provenienzforscherin Anja Zechel die Herkunftsgeschichte des Bildes. Der „jüdische Vorbesitz“ ist aus den Ankaufsunterlagen bekannt.
„Aus jüdischem Besitz“ steht auch auf einem Etikett, das rechts oben auf der Rückseite des Rahmens klebt. Ein eindeutiger Hinweis auf einen unrechtmäßigen Entzug. Aber wem hatte das Bild gehört?
Dieses Etikett der Münchener Galerie Heinemann ist ein wichtiges Indiz.
Die Kundenkartei der Galerie ist erhalten und kann mittlerweile online eingesehen werden. Dort findet die Provenienzforscherin das Verkaufsdatum und den Namen des Käufers: Ludwig Friedmann aus Augsburg. Er kaufte die ‚Bauernstube‘ im Juni 1919. Kurz zuvor war die Tochter Elisabeth zur Welt gekommen, vielleicht war dies der Anlass.
Und noch ein wichtiger Hinweis kommt von der Bildrückseite: Die Nummer 1157, die auf der Leinwand steht. Sie ist die fehlende Positionsnummer aus der Verwertungsliste, die Anja Zechel bei ihren Nachforschungen in den Wiedergutmachungsakten im Archiv findet. Vermutlich sollte das Bild, zusammen mit den Einrichtungsgegenständen, zunächst an das Wohlfahrtsamt verbracht werden und erhielt zwischen dem Ölgemälde mit der Nummer 1156 und dem Handkoffer mit der Nummer 1158 die Nummer 1157.
Dann wurde das Gemälde nachträglich als Kulturgut eingeschätzt und vermutlich daher in einer weiteren Abschrift von der Liste gestrichen.
Ein Bild kehrt zurück
Eindeutig ein Unrechtsakt, das Bild muss restituiert werden. Doch an wen? Die Erbensuche gestaltet sich unkompliziert. Denn der älteste Sohn von Ludwig und Selma Friedmann, Friedrich Georg, war 1960 zurück nach Deutschland gekommen. An der Münchener Universität baute er den Lehrstuhl für Amerikanistik auf. Auch seine Tochter Miriam Friedmann zog 2001 nach Deutschland, in die Stadt ihrer Großeltern, nach Augsburg. Sie ist die erste Ansprechpartnerin für eine Rückgabe.
Im Juli 2018 wird das Bild ‚Bauernstube‘ in Augsburg an Miriam Friedmann als Stellvertreterin der Erbengemeinschaft restituiert.
„Durch die Rückgabe dieses Bildes erhalten wir einen Gegenstand zurück, der einmal meinen Großeltern Freude bereitet hat“, kommentiert Miriam Friedmann. „Wie die akribische Forschung von Frau Anja Zechel zeigt, hatten meine Großeltern dieses Bild immer noch bei sich, als sie bereits enteignet und gezwungen wurden, zusammengepfercht in einem sogenannten ‚Judenhaus‘ zu leben. Es war wohl das letzte Zeichen der Erinnerung an ihr früheres Leben. Es hing an der Wand als sie sich zusammen mit 3 befreundeten Ehepaaren das Leben genommen haben am Abend vor ihrer Deportation. Das Gemälde war Zeuge davon.“
Für sie schließt sich mit der Rückkehr des Gemäldes eine Lücke: „Es war schmerzhaft für meine Eltern wie für so viele andere auch, über die Vergangenheit zu reden. Auf diese Weise fehlte im Leben von uns allen ein Kapitel. Durch die Rückkehr des Bildes kommt ein kleiner Baustein dieser Geschichte zurück.“